Die Geschichte dieses
Interviews ist sehr eigenartig. Es ist die Geschichte eines Interviews, das auf
mysteriöse Weise gestohlen wurde und das ich von vorn wieder beginnen musste.
Ich hatte Golda Meir zweimal für je drei Stunden getroffen bevor der Diebstahl
geschah. Ich sah Golda Meir nochmals zweimal für etwa zwei Stunden nachdem der
Diebstahl geschehen war. Ich glaube daher, dass ich der einzige Journalist bin,
der gut viermal und sechs Stunden mit dieser fantastischen Frau verbracht hat, einer
Frau, die man loben oder verurteilen kann, der aber das Adjektiv fantastisch nicht
abzusprechen ist. Oder liege ich da etwa falsch? Bin ich nun etwa Optimistin
oder Feministin? Kann sein. Aber was Golda Meir betrifft, fällt es mir schwer,
objektiv zu sein. Ich werde sie nie vorurteilslos und ohne Bewunderung
betrachten können. Ich kann es nicht, selbst wenn ich mir sage, dass man eine
Person, die so viel Macht hat, leidenschaftslos wie ein Chirurg analysieren
sollte. Ich bin davon überzeugt, dass, auch wenn man nicht mit ihr, mit ihrer
Politik, mit ihrer Ideologie übereinstimmt, nicht umhinkommt sie zu
respektieren, sie zu bewundern und sie zu mögen. Ich habe sie sofort gern gemocht.
Ausserdem erinnerte sie mich an meine Mutter, der sie etwas ähnelte. Auch meine
Mutter hatte graue, lockige Haare, dieses müde und faltige Gesicht, diesen
schweren Körper, der von geschwollenen, etwas unsicheren Beinen aus Blei
getragen wurde. Auch meine Mutter hatte dieses energische und zugleich gütige
Gesicht, diesen Ausdruck einer Hausfrau, die vom Saubermachen besessen ist, das
Gesicht einer Frau, deren Reichtum in einer entwaffnenden Einfachheit besteht,
einer beunruhigenden Bescheidenheit, einer Weisheit, die aus einer lebenslangen
harten Arbeit, aus Schmerz, Unbehagen und Mühsal erwachsen ist, in der es keine
Zeit für anderes gab. Nun, Golda Meir war auch etwas anderes, war mehr. Zum
Beispiel war sie eine Frau, von der das Schicksal von Millionen von Menschen
abhing, von der Frieden oder Krieg im Mittleren Osten abhing, eine Frau, die
die Zündschnur in der Hand hielt, mit der man einen weltweiten Konfliktes
anzünden oder vermeiden konnte. Und dann war sie die massgebende Vertreterin
einer von vielen verurteilten und kritisierten Doktrin: des Zionismus. Aber das
alles kennt man. Aber das, was alle kennen, interessiert mich nicht sonderlich.
Mich interessiert das zu erzählen, was man gewöhnlich nicht von ihr weiss. Hier
ist nun die Geschichte dieses Interviews, meiner Geschichte von Golda Meir.
Mein erstes Gespräch mit ihr fand
anfangs Oktober statt, in ihrer Wohnung in Jerusalem. Es war ein Montag, und
sie trug ein schwarzes Kleid wie es meine Mutter trug, wenn sie jemanden
empfangen wollte. Sie hatte sich sogar die Nase gepudert, so wie meine Mutter,
wenn sie auf jemand wartete. Sie sass in ihrem Wohnzimmer, vor einer Tasse
Kaffee und einem Päckchen Zigaretten und es schien mir, dass es ihr
hauptsächlich darum ging, dass ich mich wohl fühle und mich nicht zu stark von
ihre Autorität beeindrucken liesse. Ich hatte ihr vorher mein Buch über Vietnam
zukommen lassen, zusammen mit einem Strauss Rosen. Die Rosen standen in einer
Vase und das Buch hielt sie in den Händen. Bevor ich mit meinen Fragen begann,
wollte sie von mir wissen, auf welche Art ich den Krieg erlebt hatte und
deshalb war es nicht schwer, sie dazu zu bringen über ihren Krieg zu sprechen;
über den Terrorismus, über die Palästinenser, über die besetzten Gebiete, über
die Bedingungen, die sie Sadat und
Hussein stellen würde, sollte es dazu kommen, mit den Arabern zu verhandeln.
Ihre Stimme war warm und wohlklingend, ihr Ausdruck lächelnd und jovial. Mich
beeindruckte sie sofort. Mich eroberte sie völlig als sie, nach fünf
Viertelstunden, mir sagte, sie wolle mich wiedersehen. Dieses geschah drei Tage
später in ihrem Ministerpräsidentenbüro. Zwei höchst interessante Stunden.
Nachdem der politische Teil abgehandelt war, sprach sie bei diesem zweiten
Treffen, mit etwas Zurückhaltung, ausschliesslich von sich: von ihrer Kindheit,
von ihrer Familie, von ihrem Drama als Frau, von ihren Freunden wie Pietro
Nenni für den sie eine ungetrübte Bewunderung, eine bewegende Zuneigung hegte.
Als wir uns verabschiedeten, waren wir Freundinnen geworden. Mir gab sie sogar
ein Foto für meine Mutter mit, versehen mit der schmeichelhaftesten Widmung der
Welt. Sie bat mich, sie sobald wie möglich wiederzutreffen: „Aber ohne dieses
Dings da, nur um ein bisschen zu schwatzen und eine Tasse Tee zu trinken.“ Mit diesem
Dings da meinte sie das Gerät, mit dem ich jede ihrer Antworten, jede ihrer
Äusserungen aufgenommen hatte. Ihre
Mitarbeiter schienen fassungslos zu sein: vor einem Bandaufnahmegerat hatte sie
noch sich nie so offen gezeigt. Einer von ihnen bat mich, ihm eine Kopie des
Interviews zu schicken um sie dem Kibbuz zu schenken, der eine Dokumentation über Golda Meir verwahrt.
Die Tonbänder. Bei der Arbeit als
Journalist sind nichts so wertvoll wie Bandaufnahmen. Es gibt keine
stenographischen Aufzeichnungen, Erinnerungen, Anmerkungen, die die lebendige
Stimme einer Person ersetzten könnten. Die Bänder waren zwei Minikassetten von
jeweils 90 Minuten, sowie eine weitere von
weniger als 10 Minuten. Von diesen drei hatte ich erst die Erste
abgeschrieben. Ich hob sie deshalb in meiner Tasche auf, mit der Sorge, die man
einem wertvollen Schmuckstück angedeihen lässt. Am folgenden Tag brach ich auf
um gegen acht Uhr dreissig abends in Rom zu sein. Um neun Uhr dreissig betrat
ich mein Hotel. Ein grosses Hotel. Und dort, sofort nachdem ich in meinem
Zimmer war, holte ich aus meiner Tasche die drei Minikassetten heraus und
verstaute sie in einen Umschlag. Diesen Umschlag legte ich auf den Schreibtisch
und obendrauf meine Brille, eine wertvolle Puderdose und anderes Zeug. Dann
verliess ich das Zimmer. Natürlich schloss ich es mit dem Schlüssel ab und gab
diesen dem Portier. Dann verliess ich das Hotel für etwa eine Viertelstunde, ich
überquerte die Strasse um ein belegtes Brötchen zu essen. Als ich zurückkam war
der Schlüssel verschwunden. Man suchte ihn überall in der Rezeption, aber ohne
Ergebnis. Und, als ich zu meinem Zimmer hinaufkam, stand die Tür offen. Nur die
Tür. Alles andere war in Ordnung. Die Koffer waren verschlossen, die wertvolle
Puderdose und die anderen Sachen, die auf den Tisch gelegt hatte, lagen noch
dort wo ich sie hingelegt hatte, auf den ersten Blick schien es so, als hätte
niemand etwas angerührt. Es brauchte aber
nur ein paar Sekunden bis mir auffiel, dass der Umschlag, in dem ich die
Kassetten versorgt hatte, leer war und dass die Aufnahmen mit Golda Meier
verschwunden waren. Auch das Aufnahmegerät in dem noch eine leere Kassette war,
war verschwunden. Man hatte es aus meinem Reisesack genommen, mein
Schmuckkästchen aber dort gelassen und hatte dann alles wieder im Reisesack
ordentlich verstaut. Zwei Perlenketten hatten sie auf dem Tisch liegen lassen,
um die Polizei in die Irre zu führen, sagte mir später die Polizei.
Die Polizei kam sofort und
blieb bis zum frühen Morgen. Sogar die politische Polizei erschien in der
Person von zwei unsympathischen und traurig blickenden jungen Leuten, die sich normalerweise
nicht für Diebstähle interessieren, sondern für viel delikatere Sachen. Auch
die Kriminalpolizei kam, mit Fotokameras und Geräten, die dazu dienen, Spuren
im Fall von Tötungsdelikten aufzunehmen. Aber sie fanden nur meine
Fingerabdrücke: die Diebe hatten mit Handschuhen gearbeitet. Die antipathischen
und traurig blickenden Jünglinge schlussfolgerten, dass es sich um ein
politisches Delikt handeln müsse. Aber das hatte ich auch selbst schon verstanden.
Das, was ich nicht verstand war das warum und von wem. Von irgendeinem Araber
auf der Suche nach Informationen? Von irgendeinem persönlichen Feind von Golda
Meir? Von irgendeinem neidischen Journalisten? Alles war mit äusserster
Sorgfalt durchgeführt worden, mit grosser Schnelligkeit und Klarheit: à la
James Bond. Es war klar, dass man mit gefolgt war: niemand wusste, dass ich an
diesem Tag in Rom sein würde, zu welcher Stunde, und in welchem Hotel. Und der
Schlüssel? Warum war der Schlüssel aus der Rezeption verschwunden? Tags darauf
geschah etwas seltsames. Im Hotel erschien eine Frau mit zwei Taschen der
Fluggesellschaft und fragte nach der Polizei. Sie hatte die zwei Taschen in
einem Gebüsch der Villa Borghese gefunden und wollte sie der Polizei übergeben.
Was war in diesen Taschen? Etwa zwanzig
Minikassetten, identisch den meinen. Die Frau wurde sofort festgenommen und aufs
Kommissariat gebracht. Dort wurde jede einzelne Kassette abgehört. Sie
enthielten nur Lieder. Eine Warnung? Eine Drohung? Eine Ulk? Die Frau wusste
nicht zu sagen, warum sie ausgerechnet in dieses Hotel gegangen war um nach der
Polizei zu fragen.
Kommen wir auf Golda Meir
zurück. Golda erfuhr vom Diebstahl den Abend danach, als sie zuhause mit
Freunden war, denen sie gerade von unseren Treffen berichtete: „Vorgestern habe
ich ein Erlebnis gehabt, ich habe mich damit unterhalten, ein Interview zu
geben…..“ Sie wurde von einem ihrer Mitarbeiter unterbrochen, der ihr mein
Telegramm überbrachte: „Man hat mir alles gestohlen, wir müssen alles
wiederholen. Alles. Machen Sie es möglich, dass wir uns wiedersehen“. Wie man
mir später erzählte, las sie es, fasste sich an die Brust und sagte für einige
Minuten kein Wort. Dann schaute sie betrübt nach oben und sagte entschieden, in
dem sie jedes einzelne Wort betonte: „Offensichtlich will jemand nicht, dass
dieses Interview veröffentlicht wird. Folglich muss man es wiederholen. Findet
mir ein paar Stunden, für einen neuen Termin“. Wie man mir dann versicherte,
hat sie es genauso gesagt. Ich glaube nicht, dass andere Staatsmänner auf diese
Weise reagiert hätten. Ich glaube, dass jeder andere an ihrer Stelle, mit den
Achseln gezuckt und gesagt hätte: „Da hat sie leider Pech gehabt. Ich habe ihr
schon drei Stunden gewidmet. Sie soll das schreiben, an was sie sich erinnert“.
Tatsache ist, dass Golda, bevor sie Politikerin ist, eine Frau von der Art ist,
die es nicht mehr gibt. Die einzige Bedingung, die stellte, war einen Monat zu
warten und wirklich wurde das neue Treffen für den 14. November vereinbart. Und
so war es. Als ich dann zu diesem Zeitpunkt zu ihr kam, habe ich mir nicht
träumen lassen, dass ich sie so gern haben würde. Aber, um eine so bedeutende
Aussage zu machen, muss ich erzählen, was mich noch mehr erschüttert hat.
Golda wohnte allein. In der Nacht
war dort nicht einmal ein Hund, der über ihren Schlaf wachte, falls sie sich
unwohl fühlen sollte. Es gab nur die Wache vor ihrer Wohnungstür. Das war
alles. Tagsüber hatte sie eine Haushaltshilfe, die das Bett machte, Staub
wischte und die Wäsche bügelte. Wenn jemand zum Abendessen kam, kochte Golda
selbst und wusch danach auch das Geschirr ab, damit das Mädchen am nächsten
Morgen auch alles in Ordnung vorfand. Nun, am Abend vor unserem Treffen hatte
sie Gäste zum Abendessen gehabt; diese waren erst um zwei Uhr nachts gegangen
und hatten ein Chaos von nichtgespülten Tellern und Gläsern und vollen
Aschenbechern hinterlassen. Damit das Mädchen am nächsten Morgen nicht zu viel Arbeit
hätte, hatte sich Golda um zwei Uhr nachts daran gemacht, aufzuräumen und
Teller und Gläser zu spülen. Vor halb Vier war sie nicht zu Bett gegangen. Um
sieben war sie wie immer aufgestanden , hatte Zeitungen gelesen und Nachrichten
gehört. Um Acht hatte sie Gespräche mit einigen Generälen geführt, um Neun mit
einigen Ministern. Gegen zehn hatte sie sich nicht wohl gefühlt. Wenn man über
vierundsiebzig Jahre alt ist, sind dreieinhalb Stunden Ruhe zu wenig. Als ich
das hörte, schämte ich mich, bei ihr einzutreten. „Verschieben wir das
Interview, mir macht es nichts aus, glauben Sie mir, es macht mir nichts aus“.
Aber sie wollte ihre Zusage einhalten: die Arme ist extra aus Italien hierhergekommen,
und auch das zweite Mal, weil man ihr die Tonbänder gestohlen hat. Nachdem sie
zwanzig Minuten auf dem Sofa in ihrem Büro ausgeruht hatte, sass sie nun hinter
ihrem Schreibtisch: bleich, etwas mitgenommen aber sehr lieb. Ich solle wegen
der Verspätung nicht besorgt sein, sie würde mir so viel Zeit widmen, die es
braucht. Das Interview wurde also wiederholt, es verlief so wie beim ersten
Mal, vielleicht sogar noch besser. Im Oktober hatte die Zeit nicht gereicht um
von Ihrer Ehe zu sprechen, von dem, was die Tragödie ihres Lebens gewesen war.
Diesmal sprach sie auch davon, denn davon zu sprechen war ihr ein Bedürfnis,
und als sie merkte, dass die vereinbarte Zeit um war, beruhigte sie mich:
„Keine Angst, morgen machen wir den Rest“. Dann widmete sie mir einen vierten Termin:
eine wunderbare Stunde, in der wir über das Alter sprachen, über die Jugend,
über den Tod. Gott, wie kam sie mir reizend vor, als sie dies sagte. Viele meinten,
Golda sei hässlich und erfreuten sich daran, grausame Karikaturen von ihr zu machen.
Nun, Schönheit ist Geschmackssache, mir erschien Golda Meir jedenfalls als eine
reizende alte Frau. Viele meinten auch Golda sei zu männlich und vergnügten
sich, vulgäre Witze über sie zu verbreiten. Nun, auch Weiblichkeit ist eine
Geschmackssache, mir jedoch erschien Golda eine Frau aus einem Stück. Diese
liebevolle Scheu, zum Beispiel. Diese fast unglaubliche Arglosigkeit wenn man
bedenkt, dass sie so gerissen und listig sein konnte, wenn sie im Strudel der
Politik schwamm. Diese Qual, sich als Frau zu zeigen, der es nicht genügt Kinder
in die Welt zu setzen. Diese Zartheit, mit welcher sie das Zeugnis ihrer Kinder
und Enkel beschwor. Diese ungewollte Koketterie. Bei unserem letzten
Zusammentreffen trug sie eine himmelblaue Kreppbluse und eine Perlenkette, die
sie mit den Finderspitzen berührte, als wolle sie fragen: „Steht sie mir?“ Und ich dachte: Schade, dass sie so eine mächtige
Frau ist, schade, dass sie auf der Seite derjenigen steht die das Kommando
haben. Bei einer solchen Frau ist die Macht ein Schönheitsfehler.
Es ist allbekannt, dass sie 1898
als Golda Mabowitz in Kiew geboren wurde, dass sie in Amerika, in Milwaukee, aufgewachsen
ist, wo sie 1917 Morris Meyerson heiratete, dass beide 1918 nach Palästina
emigrierten, wo Ben Gurion ihr nahelegte, den Namen in Meir abzuändern, weil
das jüdischer klingt, dass ihr Erfolg sichtbar wurde als sie zur Zeit Stalins
als Botschafterin nach Moskau war, dass sie mindestens sechzig Zigaretten am
Tag rauchte und sich hauptsächlich von schwarzem Kaffee ernährte, dass ihr
Arbeitstag achtzehn Stunden dauerte, dass sie als Minister monatlich miserable
240.000 Lire verdiente. Ich versuchte nicht hinter das Geheimnis ihre Legende zu
kommen. Das folgende Interview spricht für sich selbst. Ich habe es in der
Reihenfolge unserer Gespräche zusammengestellt und aus dem Englischen
übersetzt, der Sprache, die sie vielleicht am besten kannte und in der wir uns
unterhalten haben.
Natürlich kam die Polizei nie
hinter das Geheimnis des Tonbanddiebstahls. Oder, wenn sie dahinter gekommen
sein sollte; hütete sie sich davor, mir das zu sagen. Aber ein Indiz, das bald
darauf mehr als nur ein Indiz wurde, zeigte sich von selbst. Es lohnt sich das
zu erzählen, auch um eine andere Idee von den Mächtigen zu geben. Fast
gleichzeitig mit dem Interview mit Golda Meir hatte ich auch um ein Interview
mit Gaddafi nachgesucht. Und dieser hatte mir durch einen hohen Beamten der
libyschen Informationsministeriums sein Einverständnis mitteilen lassen. Aber plötzlich,
wenige Tage nach dem Diebstahl der Bänder, rief er den Journalist einer
Wochenzeitschrift zu sich, einer Konkurrentin des „Europeo“ für den ich schrieb.
Dieser Journalist begab sich eiligst nach Tripolis, und, man höre und staune,
Gaddafi sagte ihm Dinge, die wie Antworten auf das klangen, was mir Golda Meir
gesagt hatte. Es ist unnötig zu sagen, dass der arme Journalist das nicht
wissen konnte. Aber ich merkte das natürlich - und stellte die legitime Frage:
wie war es möglich, dass der Herr Gaddafi auf etwas antworten konnte, dass noch
niemals veröffentlicht worden war und das niemand ausser mir wissen konnte?
Dass Herr Gaddafi meine Bänder abgehört hat? Dass er es gewesen war, der mir
meine Bänder hatte stehlen lassen? Und sofort kam mir ein Detail in den Sinn,
das ich nicht vergessen hatte. Am Tag nach dem Diebstahl hatte ich mich in
einen Detektiv verwandelt und heimlich den Abfalleimer des Hotelflures
durchsucht, in dem die Tat geschehen war. Und dort, obwohl im Hotel alle geschworen
hatten, dass in diesen Tagen kein Araber im Hotel abgestiegen sei, hatte ich
ein Blatt Papier gefunden, auf dem etwas auf Arabisch geschrieben war.
Tatsächlich hatte ich das Blatt, zusammen mit meinen Fragen, der politischen
Polizei überlassen.
Das ist alles. Gaddafi gab mir
nie die versprochene Gelegenheit ihn zu interviewen. Er liess mich nie nach
Tripolis kommen um den infamen Verdacht zu zerstreuen, den ich immer noch mit
mir herumtrage, mit Recht, wie ich glaube. Übrigens, wenn die italienische
Presse es so genau interessiert und er die Frechheit besitzt, die Entlassung
eines Turiner Journalisten zu fordern,
warum sollte er nicht auch die Unverschämtheit gehabt haben, mir meine
Bänder in einem Hotel in Rom stehlen zu lassen?
Golda Meir
Guten Tag, Liebe, guten Tag.
Ich war gerade dabei, Ihr Buch über den Krieg anzuschauen. Und ich habe mich
gefragt, ob die Frauen auf den Krieg wirklich so anders reagieren als die Männer
….. Ich sage nein. In diesen letzten
Jahren und während des Zermürbungskrieges war ich oft genötigt, gewisse
Entscheidungen zu treffen: zum Beispiel unsere Soldaten an Orte zu schicken,
von wo sie nicht zurückkommen würden, oder sie bei Operationen einzusetzen, die
das Leben wer weiss wie vieler Menschen auf beiden Seiten kosten würden. Und
ich litt ….. litt darunter. Ich gab jedoch die Befehle wie jeder Mann sie gegeben
hätte. Ja, wenn ich jetzt zurückdenke, bin ich mir sogar nicht einmal sicher, ob
ich mehr darunter litt als es ein Mann getan hätte. Unter meinen männlichen
Kollegen habe ich einige gesehen, die von einer tieferen Traurigkeit ergriffen
waren als ich. Oh, nicht, dass meine kleiner gewesen wäre! Aber sie
beeinflusste nicht meine Entscheidungen, nein …. Der Krieg ist eine immense
Dummheit. Ich bin davon überzeugt, dass eines Tages alle Kriege aufhören
werden. Ich bin davon überzeugt, dass eines Tages die Kinder in der Schule lernen
werden, dass die Geschichte der Kriege eine Geschichte der Absurditäten ist.
Sie werden entsetzt sein und Krieg als einen Skandal ansehen, so wie für uns heute
der Kannibalismus ein Skandal ist. Auch der Kannibalismus ist lange Zeit als
etwas Normales akzeptiert worden. Heute wird er jedoch, zumindest physisch,
nicht mehr ausgeübt.
Oriana Fallaci
Frau Meir, ich bin sehr erfreut, dass Sie dieses Thema als erste
angeschnitten haben. Denn genau mit diesem wollte auch ich anfangen. Frau Meir,
wann wird es Frieden im Nahen Osten geben? Werden wir das, diesen Frieden noch
im Laufe unseres Lebens erleben?
Gold Meir
Sie vielleicht….. Ich gewiss
nicht. Ich glaube, dass der Krieg im Nahen Osten noch lange dauern wird, viele
Jahre. Und ich sage Ihnen warum. Wegen der Gleichgültigkeit mit welcher die
arabischen Führer ihre Leute in den Tod schicken, wegen des geringen Wertes, welches
sie einem Menschenleben beimessen, wegen der Unfähigkeit der arabischen Völker
aufzustehen und zu sagen „Jetzt reicht’s“. Erinnern Sie sich als Chruschtschow
die Verbrechen Stalins publik machte, während des 20. Kongresses der
Kommunistischen Partei? Da erhob sich hinten im Saal eine Stimme, die sagte:
„Genosse Chruschtschow, und wo warst Du?“ Und Chruschtschow schaute wer das
gewesen sein könnte und da er niemand ausmachen konnte, fragte er: „Wer hat
gesprochen?“ Und wieder erfolgte keine Antwort. Daraufhin rief Chruschtschow:
„Genosse, ich war dort, wo Du jetzt stehst“. Nun, das arabische Volk befindet
sich genau dort, wo Chruschtschow war und wo derjenige war, der Chruschtschow
herausgefordert hatte ohne sich zu erkennen zu geben. Mit den Arabern wird es
nur zum Frieden kommen, wenn diese sich weiterentwickeln, zu einer
demokratischen Ordnung gelangen. Aber überall, wo ich auch hinsehe, sehe ich
nicht einmal einen Schatten von Demokratie. Ich sehe nur Diktaturen. Und ein
Diktator schuldet seinem Volk keinen Frieden. Nicht einmal über die Toten muss
er Rechenschaft geben. Wer hat jemals erfahren wie viele ägyptische Soldaten in
den letzten zwei Kriegen gestorben sind? Nur die Mütter, die Schwestern, die
Ehefrauen, die Verwandten, zu denen sie nicht zurückgekehrt sind. Die Führer
interessiert es nicht einmal wo sie begraben liegen. Wir hingegen ….
Oriana Fallaci
Ihr hingegen?
Golda Meir
Sehen sie sich diese fünf Bände
an. Sie enthalten die Fotografie und die Biografie aller Soldaten und aller
Soldatinnen, die im Krieg gefallen sind. Jeder einzelne Tod ist für uns eine
Tragödie. Wir mögen keinen Krieg: nicht einmal, wenn wir ihn gewinnen. Nach dem
letzten, gab es keinerlei Freude in unseren Strassen. Es gab keine Tänze, keine
Lieder, keine Feiern. Und Sie hätten unsere siegreich heimkehrenden Soldaten
sehen müssen. Im Gesicht von jedem stand nur Traurigkeit geschrieben. Nicht nur
weil sie ihre Brüder sterben gesehen hatten, sondern auch weil sie ihre Feinde
töten mussten. Viele von ihnen schlossen sich in ihr Zimmer ein und blieben
still. Oder sie öffneten den Mund um immer wieder zu wiederholen: „Ich musste
schiessen. Ich habe getötet“. Genau das Gegenteil von dem, was die Araber
machen. Nach dem Krieg boten wir den Ägyptern einen Gefangenenaustausch an.
Siebzig von ihnen gegen zehn der unseren. Die Antwort war: „Aber eure sind
Offiziere und unsere sind Fellachen! Unmöglich“. Fellachen, Bauern. Ich
befürchte ….
Oriana Fallaci
Fürchten Sie, dass der Krieg zwischen Israel und den Arabern nochmals
ausbrechen wird?
Golda Meir
Ja, Das ist möglich. Warum? Sehen
Sie, viele sagen, die Araber seien bereit, einen Vertrag mit uns zu
unterschreiben, aber wer in diesen Diktaturen kann uns garantieren, dass der
Vertrag eingehalten wird. Nehmen wir an, dass Sadat unterschreibt und dann
ermordet wird. Oder einfach eliminiert. Wer sagt uns, dass sein Nachfolger den
von Sadat unterschriebenen Vertrag respektiert? Wurde etwa der Waffenstillstand
respektiert, den die arabischen Staaten mit uns abgeschlossen haben? Trotz
dieses Waffenstillstandes gab es nie Frieden an unseren Grenzen und heute
erwarten wir ständig, dass sie uns angreifen.
Oriana Fallaci
Aber man spricht heute von einer Vereinbarung, Frau Meir. Auch Sadat
spricht davon. Ist es nicht leichter mit Sadat zu verhandeln als mit Nasser?
Golda Meir
Absolut nicht. Es ist genau das
Gleiche. Aus dem einfachen Grund, weil Sadat nicht mit uns verhandeln will. Ich
selbst bin bereit mit ihm zu verhandeln. Seit Jahren sage ich:“Sadat, setzen
wir uns an einen Tisch und versuchen wir die Sache zu regeln“. Aber er sagt
nein. Er fährt fort zu von dem Unterschied zwischen einem Abkommen und einem
Vertrag zu sprechen. Er sagt er sei zu einem Abkommen bereit, aber nicht zu
einem Friedensvertrag. Denn ein Friedensvertrag bedeutet die Anerkennung
Israels, die Aufnahme diplomatischer Beziehungen. Haben Sie das
verstanden? Das, auf was Sadat abzielt,
ist keine definitive Regelung, das Ende des Krieges, sondern eine Art
Waffenstillstand. Ausserdem lehnt er es ab mit uns direkt zu verhandeln. Er
will mit uns nur über Vermittler sprechen. Wir können nicht über Vermittler
verhandeln! Das hat keinen Sinn, das nützt nichts! Auch 1949 auf Rhodos, nach
dem Unabhängigkeitskrieg haben wir eine Abmachung mit den Ägyptern, den
Jordaniern, den Syrern und den Libanesen unterschrieben, allerdings unter
Vermittlung von Dr. Bunch, der sich im Auftrag der Vereinten Nationen mal mit
der einen Gruppe traf, mal mit der anderen…… Ein schönes Ergebnis.
Oriana Fallaci
Und die Tatsache, dass Hussein von Frieden spricht? Auch das bedeutet Ihnen
nichts Gutes?
Golda Meir
Vor Kurzem habe ich etwas Freundliches
über Hussein gesagt. Ich habe ihn gelobt, weil er öffentlich von Frieden
gesprochen hat. Ich sage noch mehr: ich glaube Hussein. Ich bin überzeugt, dass
er schliesslich gemerkt hat, wie falsch es wäre wenn er sich auf einem weiteren
Krieg einliesse. Hussein hat verstanden, dass er 1967 einen furchtbaren Fehler
gemacht hat, als er sich an dem Krieg gegen uns beteiligt hat und die Botschaft
Eschkols unbeachtet liess: „Trete nicht in den Krieg ein und es wird nichts
geschehen“. Er hat begriffen, dass es ein tragischer Fehler war auf Nasser zu
hören, auf seine Lügen von der Bombardierung Tel Avivs. Nun will er den
Frieden. Aber er will ihn nach seinen Bedingungen. Er will das linke Jordanufer,
d.h. die Westbank, er will Jerusalem und beruft sich auf die Resolution der
UNO. Wir haben sie schon einmal angenommen, die Resolution der UNO. Das war als
man von uns die Teilung Jerusalems verlangte. Für unsere Herzen war das eine
tiefe Wunde, trotzdem haben wir sie angenommen. Und die Folgen kennt man. Waren
wir es vielleicht, die das jordanische Heer angegriffen haben? War es nicht das
jordanische Heer, das in Jerusalem eingedrungen ist! Die Araber sind wirklich
seltsam: sie verlieren die Kriege und dann wollen sie auch noch davon
profitieren. Kurz, haben wir den Sechstagekrieg gewonnen oder sie? Wir haben
das Recht unsere Bedingungen zu stellen, oder etwa nicht? Aber seit wann in der
Geschichte hat der Angreifer, wenn er verliert, auch noch das Recht dem
Gewinner die Bedingen zu diktieren? Sie tun nichts anderes als uns zu sagen:
gebt uns dies zurück, gebt uns dies andere zurück, verzichtet auf dies,
verzichtet auf das…….
Oriana Fallaci
Werdet ihr niemals auf Jerusalem verzichten, Frau Meir?
Golda Meir
Nein, Niemals. Nein. Jerusalem
niemals, Jerusalem niemals. Das ist unvertretbar. Jerusalem steht nicht zur
Diskussion. Wir werden es nicht einmal zulassen, dass über Jerusalem gesprochen
wird.
Oriana Fallaci
Könntet ihr auf das Westufer des Jordan, auf die Westbank verzichten?
Golda Meir
Was das betrifft, so gibt es in
Israel verschiedene Meinungen. Folglich ist es möglich, dass man über die
Westbank verhandelt. Ich will Ihnen das besser erklären. Ich denke, dass die
Mehrheit der Israelis niemals dem Parlament gestatten wird, auf die Westbank zu
verzichten. Immerhin, wenn es zu Verhandlungen mit Hussein kommen sollte, wäre
die Mehrheit der Israelis bereit, auf einen Teil der Westbank zu verzichten.
Ich habe gesagt auf einen Teil: das muss klar sein. Und für den Moment, hat
sich die Regierung noch nicht für ein Ja oder für ein Nein entschieden. Und ich
auch nicht. Warum sollen wir uns streiten, bevor der Führer eines arabischen
Staates sich bereit erklärt, sich mit uns an einen Tisch zu setzen? Ich
persönlich denke, dass wenn Hussein sich entscheiden würde mit uns zu
verhandeln, könnten wir ihm einen Teil der Westbank zurückgeben. Sei es nach
einer Entscheidung der Regierung oder des Parlaments, sei es nach einem
Referendum. Gewiss, wir könnten ein Referendum über diese Angelegenheit
durchführen.
Oriana Fallaci
Und Gaza? Könntet ihr auf Gaza verzichten, Frau Meir?
Golda Meir
Ich sage, Gaza muss, sollte ein
Teil Israels sein. Ja, das ist meine Meinung, ja es ist unsere Meinung. Um zu
verhandeln frage ich nicht Hussein oder Sadat, ob sie mit mir in jedem Punkt
übereinstimmen. Ich sage: „Meine, unsre Meinung ist, Gaza muss bei Israel
bleiben. Ich weiss, dass ihr anders darüber denkt. OK, setzen wir uns an einen
Tisch und fangen an zu verhandeln“. Ist das klar? Es ist wirklich nicht
notwendig vor den Verhandlungen zu einem Konsens zu gelangen: Verhandlungen
dienen dazu zu einem Konsens zu gelangen. Wenn ich sage, das Jerusalem nie
geteilt werden wird, dass Jerusalem bei Israel bleibt, verlange ich nicht, dass
Hussein und Sadat Jerusalem nicht erwähnen dürfen. Ich verlange nicht einmal,
dass sie Gaza nicht erwähnen. Wenn es zu Verhandlungen kommt, können sie
erwähnen was sie wollen.
Oriana Fallaci
Und die Golanhöhen?
Golda Meir
Mehr oder weniger ist das die
gleiche Angelegenheit. Die Syrer wollen, dass wir vom Golan herabsteigen, damit
sie uns von dort besser beschiessen können, so wie sie es vorher gemacht haben.
Unnötig zu sagen, dass wir nicht einmal darüber nachdenken, wir werden die
Hochebene niemals aufgeben. Ungeachtet dessen sind wir jedoch bereit auch mit
den Syrern zu verhandeln. Nach unsere Bedingungen. Und unsere Bedingungen
bestehen darin, dass eine Grenze zwischen Syrien und Israel festgelegt wird,
die unsere Anwesenheit auf der Hochebene festigt. Anders gesagt, heute befinden
sich die Syrer genau dort, wo die Grenze verlaufen sollte. Denn nur wenn sie
dort bleiben, wo sie heute sind, können sie uns nicht beschiessen, so wie sie
es neunzehn Jahre lang gemacht haben.
Oriana Fallaci
Und der Sinai?
Golda Meir
Wir haben nie gesagt, dass wir
den ganzen Sinai wollen, oder den grössten Teil des Sinai. Wir wollen nicht den
ganzen Sinai. Wir wollen nur die Kontrolle von Sharm-el-Sheik und ein Stück Wüste, sagen wir einen Streifen
Wüste, der Israel mit Sharm-el-Sheik verbindet. Ist das klar? Oder muss ich mich
wiederholen? Wir wollen nicht den grössten Teil des Sinai. Vielleicht wollen
wir nicht einmal die Hälfte des Sinai, denn uns interessiert es nicht am
Suezkanal zu sitzen. Wir sind die ersten, die wissen, dass der Suezkanal für
die Ägypter äusserst wichtig ist, dass es für sie sogar eine Prestigefrage ist
ihn zu besitzen. Wir wissen auch, dass der Kanal für unsere Sicherheit keine
Bedeutung hat. Wir sind ab sofort bereit, darauf zu verzichten. Wir verzichten
jedoch nicht auf Sharm-el-Sheik und einen Streifen der Wüste, der uns mit
Sharm-el-Sheik verbindet. Denn wir wollen, dass unsere Schiffe in
Sharm-el-Sheik ein- und ausfahren können, denn wir wollen nicht noch einmal in
der Situation sein, in der wir uns das letzte Mal befunden haben, als wir auf
Sharm-el-Sheik verzichtet haben. Wir wollen nicht Gefahr laufen, dass wir morgens
aufwachen und der ganze Sinai voll von ägyptischen Truppen ist. Auf dieser
Basis, und nur auf dieser Basis, sind wir bereit mit den Ägyptern zu
verhandeln. Mir erscheint das ziemlich einleuchtend.
Oriana Fallaci
Es ist also klar, dass ihr nicht wieder hinter die alten Grenzen
zurückgeht.
Golda Meir
Niemals. Und wenn ich sage
niemals, dann nicht weil wie neue Territorien annektieren wollen. Wir wollen
nur unsere Verteidigung, unser Überleben sichern. Wenn es möglich sein sollte,
den Frieden zu erreichen, von dem Sie anfangs sprachen, ist das die einzige Art
und Weise auf der er zu erreichen ist. Es gäbe niemals Frieden wenn die Syrer
auf die Golanhöhen zurückkehren und die Ägypter den ganzen Sinai wieder
besetzen würden, wenn wir mit Hussein die Grenzen von 1967 wieder errichten
würden. 1967 betrug die Distanz zwischen Natanya und dem Meer gerade zehn
Meilen, d.h. fünfzehn Kilometer. Wenn wir Hussein die Möglichkeit schenken,
diese fünfzehn Kilometer zu durchbrechen, dann wäre Israel in zwei Teile
geteilt und ….. Man bezichtigt uns Expansionismus zu betreiben, aber es
interessiert uns nicht zu expandieren, glauben Sie mir. Uns interessieren nur
neue Grenzen. Und dann hören Sie: diese Araber wollen an die Grenzen von 1967
zurückkehren. Wenn sie diese Grenzen richtig fanden, warum haben sie sie dann
zerstört?
Oriana Fallaci
Frau Meir, wir haben bis jetzt von Vereinbarungen, Verhandlungen und
Verträgen gesprochen. Aber nach dem Waffenstillstand von 1967 hat der Krieg im
Nahen Osten ein neues Gesicht erhalten, das Gesicht des Terrors, des
Terrorismus. Was denken Sie über diesen Krieg und über die Männer, die ihn
führen? Über Arafat zum Beispiel, über Habash, über die Führer des Schwarzen
Septembers?
Golda Meir
Ich denke einfach, das sind
keine Männer. Ich betrachte sie nicht einmal als Menschen, und das Schlimmste,
was man von einem Menschen sagen kann, ist, dass er kein Mensch ist. Es ist wie
wenn man sagt „er ist ein Tier“, oder nicht? Aber wie können die behaupten,
dass das, was sie machen, „Krieg“ ist? Erinnern Sie sich nicht, was Habash
gesagt hat, als er einen Autobus voller israelischer Kinder in die Luft
sprengte? „Es ist das Beste die Israelis zu töten, wenn sie noch Kinder sind“. Also,
das ist doch kein Krieg. Das ist nicht einmal eine revolutionäre Bewegung, eine
Bewegung, die nur töten will, kann sich nicht revolutionär nennen. Hören Sie:
am Anfang dieses Jahrhunderts gab es in Russlands, innerhalb der revolutionären
Bewegung, die den Zar entthronen wollte, eine Partei, die im Terror ihre
einzige Waffe sah. Eines Tags schickte man ein Mann dieser Partei mit einer
Bombe an eine Strassenecke, an der die Kutsche mit einem hohen zaristischen Beamten
vorbeifahren sollte. Die Kutsche fuhr zur vereinbarten Zeit vorbei, aber der
Beamte war nicht allein: er hatte Frau und Kinder bei sich. Also was machte
dieser Revolutionär? Er warf die Bombe nicht. Er liess sie in seiner Hand
explodieren und wurde zerfetzt. Hören Sie, auch wir haben während des
Unabhängigkeitskrieges unser Terroristengruppen gehabt: die Gruppe Stern, die
Irgun. Und ich war gegen sie, und ich werde immer gegen sie sein. Jedoch keiner
von ihnen hat sich solchen Verbrechen schuldig gemacht, wie sie heute von den
Arabern gegen uns verübt werden. Niemand von uns hat Bomben in Supermärkten
gelegt oder in Autobusse mit Kindern. Keiner von uns hat Tragödien
hervorgerufen wie jene von München oder Lydda (Lod).
Oriana Fallaci
Und wie kann man den Terrorismus bekämpfen, Frau Meir? Glauben Sie
wirklich, dass die Bombardierung libanesischer Dörfer etwas nützt?
Golda Meir
Bis zu einem gewissen Punkt ja.
Gewiss. Weil sich in diesen Dörfern Fedajin befinden. Selbst die Libanesen
sagen: „Gewisse Gegenden sind Territorium der Fatah“. Gewisse Gegenden muss man
deshalb von ihnen säubern. Sie zu säubern wäre Sache der Libanesen. Die
Libanesen sagen jedoch, sie könnten nichts machen. Nun, auch Hussein sagte das
als die Fedajin sich in Jordanien eingenistet hatten. Im September 1970, als
Amman in Gefahr war, als sein Palast in Gefahr war und er selbst in Gefahr war,
merkte Hussein, dass er doch etwas machen konnte. Er schaltete sie aus. Wenn
die Libanesen fortfahren nichts zu machen, sagen wir: „Gut. Wir kennen Eure
Schwierigkeiten. Ihr könnt nicht. Aber wir können. Und, um das zu beweisen,
bombardieren wir die Gebiete, in denen die Fedajin sind“. Der Libanon bietet Terroristen
Zuflucht, vielleicht mehr als andere arabische Länder. Die Japaner, die das
Massaker von Lydda (Lod) anrichteten, kamen aus dem Libanon. Die Mädchen, die
versuchten ein Flugzeug der Sabena in Tel Aviv zu entführen, waren im Libanon
ausgebildet worden. Die Ausbildungscamps befinden sich im Libanon. Müssen wir
vielleicht mit verschränkten Armen zusehen und beten „hoffen wir, dass nichts
passiert“? Beten nützt nichts. Was nützt ist der Gegenangriff. Mit allen zu
Gebote stehenden Mitteln, einschliesslich der Mittel, die auch uns nicht
gefallen. Sicher ziehen wir es vor, sie auf offenem Feld zu bekämpfen. Aber
weil das nicht möglich ist ….
Oriana Fallaci
Frau Meir, wären Sie bereit mit Arafat oder Habash zu sprechen?
Golda Meir
Nie! Mit denen niemals! Was
will man schon mit Leuten diskutieren, die nicht einmal den Mut haben, die
eigene Haut aufs Spiel zu setzen und die Bomben anderen in die Hand geben? Wie
die zwei Araber in Rom, zum Beispiel, diejenigen, die den Plattenspieler mit
der Bombe zwei dummen Mädchen aus England gegeben haben. Hören Sie: Wir wollen
zu einem Frieden mit den arabischen Staaten gelangen, mit den verantwortlichen
Regierungen der arabischen Staaten, ganz gleich welches ihr Regime ist. Ihr
Regime interessiert uns nicht. Aber Leuten wie Habash, Arafat, und Schwarzer
September haben wir nichts zu sagen. Die Leute, mit denen man reden kann, sind
andere.
Oriana Fallaci
Meinen Sie uns Europäer, Frau Meir?
Golda Meir
Genau. Es ist notwendig, dass
die Europäer und nicht nur die Europäer sich entscheiden, und das verhindern,
das Sie Krieg nennen. Bis heute gab es viel zu viel Toleranz auf Eurer Seite.
Eine Toleranz, gestatten Sie mir, das zu sagen, die ihre Wurzeln in einem immer
noch nicht überwundenen Antisemitismus hat.
Aber der Antisemitismus hört nicht mit dem Leiden der Juden auf und Schluss.
Die Geschichte hat gezeigt, dass der Antisemitismus in der Welt immer Unglück
für alle angekündigt hat. Es fängt damit an, in dem man die Juden quält, und es
endet damit alle zu quälen. Ein banales Beispiel: die erste Flugzeugentführung.
Es handelte sich um ein Flugzeug der El Al, erinnern Sie sich? Es wurde in
Algerien entführt. Also gut, die einen erklärten, dass es ihnen leid tue,
andere zeigten sich beglückt, aber kein Pilot hat gesagt: „Nach Algerien fliege
ich nicht mehr“. Wenn das jemand gesagt hätte, gäbe es heute den Albtraum der
Flugzeugpiraterie nicht. Niemand hat reagiert, im Gegenteil, heute gehört die
Luftpiraterie zum Üblichen unserer Zeit. Jeder Irre kann heute ein Flugzeug
entführen um Geld zu erpressen. Politische Gründe braucht es nicht. Aber kehren
wir in Europa zurück. In jeder europäischen Hauptstadt gibt es Büros der
sogenannten Befreiungsbewegungen und ihr wisst sehr gut, dass es sich nicht um
harmlose Büros handelt. Aber ihr tut nichts gegen sie. Dank Eures Nichtstuns
und Eures Entgegenkommens vermehrt sich der Terrorismus und ihr spürt ihn sogar.
Haben die Deutschen ihn nicht schon gespürt?
Oriana Fallaci
Nach der Freilassung der drei Araber haben Sie den Deutschen sehr böse geantwortet
Golda Meir
Sie müssen verstehen, welche
Bedeutung die Tragödie von München für uns hat. Schon die Tatsache, dass das in
Deutschland passieren konnte … Ich will damit sagen: das Nachkriegsdeutschland
ist nicht Nazideutschland. Ich kenne Willy Brandt. Ich treffe ihn immer an den
Tagungen der Sozialisten, einmal ist er auch hier gewesen als noch
Bürgermeister von Berlin war und ich weiss gut, dass er die Nazis bekämpft hat.
Nicht einen Augenblick lang habe ich gedacht, dass er diese Araber mit Freuden
entlassen könnte. Aber Deutschland …. Sehen Sie, ich habe niemals einen Fuss
nach Deutschland setzen können. Ich war in Österreich, aber es gelingt mir
nicht nach Deutschland zu gehen. Für uns Juden sind die Beziehungen zu
Deutschland ein Konflikt zwischen Kopf und Herz …. Sie dürfen mich so etwas nicht sagen lassen.
Ich bin Premierminister, ich habe eine gewisse Verantwortung. Also, ich
schliesse das ab indem ich sage, dass mein strenges Urteils unumgänglich war.
Die Verlautbarungen der Deutschen waren eine nachträgliche Beleidigung der
Wunde, die sie uns zugefügt haben. Schliesslich können nun die drei Araber, die
an dem Mord an den elf unbewaffneten Israeli beteiligt waren, nun darangehen
andere Menschen zu ermorden.
Oriana Fallaci
Frau Meir, wissen Sie, was die Meinung vieler Menschen ist? Dass es den
arabischen Terrorismus solange geben wird, solange es palästinensische
Flüchtlinge gibt.
Golda Meir
Das ist nicht wahr, denn der
Terrorismus ist zu einer Art bösartiger internationaler Gewohnheit geworden: zu
einer Krankheit, die Personen anfällt, die nichts, aber auch gar nichts mit den
palästinensischen Flüchtlingen zu tun haben. Denken Sie an die Japaner, die das
Massaker in Lydda (Lod) angerichtet haben. Haben die Israelis vielleicht
japanisches Gebiet besetzt? Und was die Fluchtlinge betrifft: wo auch immer ein
Krieg ausbricht, gibt es Flüchtlinge. Es gibt nicht nur palästinensische
Flüchtlinge in der Welt, es gibt pakistanische, indische, türkische, deutsche.
Donnerwetter, es gab Millionen deutscher Flüchtlinge, die aus Gebieten kamen,
die heute zu Russland und zu Polen gehören. Und Deutschland übernimmt die
Verantwortung für diese Leute, denn es sind seine Leute. Und die
Sudentendeutschen? Niemand denkt, dass sie in die Tschechoslowakei zurückkehren
müssten: sie selbst wissen, dass sie niemals zurückkehren werden. In den zehn Jahren, in denen ich mit den
Vereinten Nationen zu tun hatte, habe ich nie von Sudentendeutschen gehört, die
aus der Tschechoslowakei ausgewiesen wurden. Warum kümmern sich alle nur um die
Palästinenser und um niemanden anders?
Oriana Fallaci
Aber der Fall Palästina ist anders, Frau Meir, denn ….
Golda Meir
Er ist es sicher. Und wissen
Sie warum? Wenn es einen Krieg gibt, flüchten die Leute, normalerweise in
Länder, in denen man eine andere Sprache spricht, eine andere Religion hat. Die
Palästinenser flüchteten hingegen in Länder, in denen man dieselbe Sprache
spricht und die gleiche Religion hat. Sie flüchteten nach Syrien, in den
Libanon, nach Jordanien, und dort tat niemand etwas um ihnen zu helfen. Und was
Ägypten betrifft, so haben die Ägypter,
die Gaza nahmen, den Palästinensern nie erlaubt, zu arbeiten und hielten sie in
Armut um sie als Waffe gegen uns zu benutzen. Es war stets die Politik der
arabischen Staaten, die Flüchtlinge als eine Waffe gegen uns zu benutzen. Hammarskjöld hatte einen Plan zur Entwicklung des Nahen
Ostens vorgeschlagen, und dieser Plan sah vor allem eine Wiederansiedlung der
palästinensischen Flüchtlinge vor. Aber die arabischen Länder haben den Plan
abgelehnt.
Oriana Fallaci
Frau Meir, haben Sie nicht ein wenig Mitgefühl für sie?
Golda Meir
Gewiss habe ich das. Aber
Mitgefühl heisst nicht Verantwortung. Und die Verantwortung für die
Palästinenser haben nicht wir: es ist Sache der Araber. Wir in Israel, haben
etwa eine Million und vierhunderttausend arabische Juden aufgenommen: Aus dem
Irak, aus dem Jemen, aus Ägypten, aus Syrien, aus nordafrikanischen Ländern wie
Marokko; Leute, die als sie zu uns kamen, voller Krankheiten waren und nichts
konnten. Unter den siebzigtausend Juden aus dem Jemen, zum Beispiel, war nicht
ein Arzt und nicht eine Krankenschwester: und fast alle hatten
Tuberkulose. Und trotzdem haben wir sie
aufgenommen und haben Krankenhäuser für sie eingerichtet. Wir haben sie
gepflegt, wir haben sie ausgebildet, wir haben ihnen saubere Wohnungen gegeben
und haben aus ihnen Bauern, Ärzte, Ingenieure und Lehrer gemacht. Unter den
hundertfünfzigtausend Juden aus dem Irak gab es nur eine ganz kleine Gruppe
Intellektueller: trotzdem besuchen die Kinder von ihnen heute die
Universitäten. Sicher haben wir auch Probleme mit ihnen - es ist nicht alles
Gold was glänzt - aber es bleibt die Tatsache, dass wir sie aufgenommen und
ihnen geholfen haben. Die Araber haben hingegen keinen Finger für ihre Leute
krumm gemacht. Sie bedienen sich ihrer und das ist alles.
Oriana Fallaci
Frau Meir, und wenn Israel den palästinensischen Flüchtlingen erlauben würde
zurückzukommen?
Golda Meir
Unmöglich. Zwanzig Jahre lang
sind sie mit Hass gegen uns gefüttert worden: sie können nicht mehr hierher
zurückkehren. Ihre Kinder sind nicht hier geboren, sie sind in Lagern geboren
worden, und alles was sie wissen, ist, dass man die Israelis ermorden muss,
dass man Israel zerstören muss. Wir haben in den Schulen in Gaza Rechenbücher
gefunden, in denen Aufgaben wie diese standen: „Du hast fünf Israelis. Du
tötest drei. Wie viele Israelis musst du noch umbringen?“ Wenn man solche Dinge
Kindern von sieben oder acht Jahren beibringt, vergeht jede Hoffnung. Es wäre
schlimm wenn es für sie noch eine andere Lösung gäbe als die hierher
zurückzukommen. Diese Lösung gäbe es. Das haben die Jordanier gezeigt als sie
ihnen die Staatsbürgerschaft gaben und sie dazu aufriefen ein Land namens
Jordanien aufzubauen. Das was Abdullah und Hussein gemacht haben ist sehr viel
besser als das was die Ägypter gemacht haben. Wissen Sie, dass in den guten
Jahren, in Jordanien, Palästinenser den Posten des Premierministers und des
Aussenministers innehatten? Wissen Sie, dass nach der Teilung im Jahre 1922 nur
dreihunderttausend Beduinen in Jordanien lebten und dass die palästinensischen
Flüchtlinge die Mehrheit bildeten? Warum betrachten sie nicht Jordanien als ihr
Land?
Oriana Fallaci
Weil sie sich nicht als Jordanier betrachten, Frau Meir. Weil sie sagen,
sie wären Palästinenser und ihr Zuhause sei Palästina und nicht Jordanien.
Golda Meir
Also muss man sich über den
Begriff Palästina klar werden. Man muss daran erinnern, dass, als England das
Mandat erhielt, Palästina das Gebiet zwischen dem Mittelmeer und dem Irak war.
Dieses Gebiet erstreckte sich auf beiden Seiten des Jordan, selbst der Hohe
Kommissar, der dort regierte war der Gleiche. Dann, im Jahre 1922, teilte Churchill
das Gebiet und der Teil östlich des Jordans wurde Cisjordanien und das Gebiet
westlich des Jordans wurde Transjordanien. Zwei Namen für die gleichen Leute.
Abdullah, der Grossvater Husseins bekam Transjordanien und nahm sich später
auch noch Cisjordanien, aber, ich wiederhole es, es handelte sich immer um die
gleichen Leute, um das gleiche Palästina. Bevor Arafat Israel liquidiert,
müsste er Hussein liquidieren. Aber Arafat ist so unbedarft. Er weiss nicht
einmal, dass, am Ende des Ersten Weltkriegs, das, was heute Israel ist, sich
nicht Palästina nannte, es nannte sich Südsyrien. Und dann …. Wenn wir schon
von Flüchtlingen sprechen, dann möchte ich daran erinnern, dass für
Jahrhunderte die Juden die Flüchtlinge par excellence waren. Zerstreut in Länder,
in denen man ihre Sprache nicht sprach, ihre Religion nicht praktizierte, ihre
Sitten nicht kannte…… Russland, Tschechoslowakei, Polen, Deutschland,
Frankreich, Italien, England, Arabien, Afrika ….. eingeschlossen in Ghettos,
verfolgt, ausgerottet. Und trotzdem haben sie überlebt und haben nie aufgehört
ein Volk zu sein und sie haben sich zusammengefunden um eine Nation zu
gründen……
Oriana Fallaci
Aber genau das ist es, was die Palästinenser wollen, Frau Meir: eine
Nation werden. Genau deshalb sagen einige, sie müssten ihren eigenen Staat auf
der Westbank haben.
Golda Meir
Hören Sie, ich habe Ihnen schon
erklärt, dass westlich und östlich des Jordans die gleichen Leute leben. Ich
habe Ihnen auch erklärt, dass diese sich zuerst Palästinenser und dann
Jordanier nannten. Ob sie sich heute Palästinenser oder Jordanier nennen
wollen, interessiert mich keinen Deut. Das ist nicht meine Sache. Es ist jedoch
meine Sache, dass sich, zwischen Israel und, dem was sich jetzt Jordanien
nennt, kein weiterer arabischer Staat etabliert. In dem Strich zwischen
Mittelmeer und den Grenzen des Irak gibt es Platz nur für zwei Staaten: einen
arabischen und einen jüdischen. Wenn wir einen Friedensvertrag mit Hussein
abschliessen und die Grenzen zu Jordanien festlegen, das, was auf der anderen
Seite der Grenze geschieht interessiert Israel nicht. Die Palästinenser können
sich mit Hussein arrangieren wie sie wollen, können ihren Staat nennen wie sie
wollen, können ihm eine Regierungsform geben, wie sie wollen. Wichtig ist nur,
dass kein dritter arabischer Staat zwischen uns und Jordanien entsteht. Den
wollen wir nicht. Wir können uns das nicht erlauben. Denn dieser würde als ein
Messer gegen uns benutzt werden.
Oriana Fallaci
Frau Meir, ich möchte jetzt ein anderes Thema anschneiden. Folgendes.
Wenn man einen Traum hat, dann nährt sich dieser Traum von einer Utopie. Und wenn dieser Traum Wirklichkeit wird,
entdeckt man, dass …. eine Utopie eine Utopie bleibt. Sind Sie mit dem
zufrieden was heute Israel ist?
Golda Meir
Ich bin eine aufrichtige Frau.
Ich antworte Ihnen aufrichtig, als Sozialistin. Nein: ich kann nicht sagen, dass
Israel das ist, was ich geträumt habe. Als sozialistische Jüdin, die immer
grossen Nachdruck auf die jüdische Komponente ihres Sozialismus gelegt hat,
muss ich sagen, Israel ist mehr als ich mir erträumt habe. Ich erkläre Ihnen
das. Die Verwirklichung des Zionismus ist für mich ein Teil des Sozialismus.
Ich weiss, andere Sozialisten gehen diesbezüglich nicht mit mir einig, aber ich
denke so. Ich bin nicht objektiv in dieser Sache, ich denke dass es ein paar
grosse Ungerechtigkeiten in der Welt gibt: die unter der die Schwarzafrikaner leiden
und die Unterdrückung der Juden. Und dann bin ich der Meinung, dass diese beiden
Ungerechtigkeiten sich nur mittels eines sozialistischen Prinzips korrigieren
lassen. Dem jüdischen Volk Gerechtigkeit zukommen zu lassen ist die Aufgabe
meines Lebens und … sagen wir es kurz: vor vierzig oder fünfzig Jahren habe ich
in der Tat nicht daran geglaubt, dass die Juden einen eigenen Staat haben
würden. Diesen Staat gibt es heute. Deshalb scheint es mir nicht
gerechtfertigt, sich zu stark über dessen Fehler und dessen Schuld zu grämen.
Wir haben einen Boden, auf dem wir unsere Füsse setzen können, wo wir unsere
sozialistischen Ideale, die vorher reine Luftschlösser waren, verwirklichen
können. Das ist schon viel.
Oriana Fallaci
Was gefällt Ihnen an Israel nicht? Was enttäuscht Sie?
Golda Meir
Oh, ich glaube, dass keiner von
uns Träumern am Anfang daran gedacht hat, dass es Schwierigkeiten geben könnte.
Zum Beispiel, haben wir nie die Probleme vorausgesehen, welche das Zusammenleben
von Juden bereiten könnte, die aus den verschiedensten Ländern stammen und für
viele Jahrhunderte getrennt waren. Ja, es sind Juden aus aller Welt gekommen,
wie wir es wollten. Aber jede Gruppe hatte ihre eigene Sprache, ihre eigene Kultur, und eine mit den
anderen Gruppen zu vereinen ist sehr viel schwerer gewesen, als es theoretisch
erschien. Es ist nicht einfach aus so vielen verschiedenartigen Leuten ein
homogenes Volk zu machen…… Zusammenstösse waren unvermeidbar. Und das hat mir
nicht gefallen. Ich war enttäuscht. Ihnen erscheint das wahrscheinlich dumm und
naiv - aber ich dachte ausserdem, dass es in einem jüdischen Staat nicht die
Probleme geben würde, die es in anderen Staaten gibt: Diebstahl, Mord,
Prostitution …… Ich dachte mir das so, denn wir hatten gut angefangen: vor
fünfzehn Jahren gab es in Israel fast keine Diebstähle, es gab keine Morde und
es gab keine Prostitution. Heute haben wir hingegen alles das. Und das ist etwas, das mein Herz betrübt: es schmerzt
mich mehr als zu entdecken, dass wir es noch nicht zu einer gerechteren und
gleicheren Gesellschaft gebracht haben.
Oriana Fallaci
Frau Meir, glauben Sie immer noch an den Sozialismus wie vor vierzig
Jahren?
Golda Meir
Im Grunde schon. Die Grundidee
ist immer noch die Gleiche. Aber wenn man überzeugend sein will, muss man die
Dinge auch realistisch betrachten. Muss man zugestehen, dass es eine grossen
Unterschied gibt zwischen sozialistischer Ideologie und praktiziertem
Sozialismus. Alle sozialistischen Parteien, die einem Land an die Regierung
gelangt sind und Verantwortung übernommen haben, mussten Kompromisse eingehen.
Und nicht nur das: seitdem die Sozialisten in einzelnen Ländern an der Macht
sind, ist der internationale Sozialismus schwächer geworden. Der internationalen
Sozialismus, den es gab als ich ein junges Mädchen war, das heisst als keine
sozialistische Partei an der Macht war, war eine Sache, eine andere ist es Sozialismus
heute zu betreiben. Der Traum, den ich hatte, der Traum einer gerechten Welt,
die im Sozialismus vereint ist, hat sich aufgelöst. Die nationalen Interessen
haben die internationalen überwogen, die schwedischen Sozialisten haben sich
vor allem als Schweden entpuppt, die englischen Sozialisten haben sich vor
allem als Engländer erwiesen und die jüdischen Sozialisten sind vor allem
Juden. Das habe ich zu verstehen begonnen während des Spanischen Bürgerkrieges.
Damals waren Sozialisten einer Menge Länder an der Macht, aber keiner hat für die spanischen
Sozialisten einen Finger krumm gemacht.
Oriana Fallaci
Aber von welchem Sozialismus sprechen Sie, Frau Meir? Ich will sagen: würden
Sie mit Nenni übereinstimmen wenn er sagt, dass er soweit gekommen ist, den
schwedischen Sozialismus zu bevorzugen?
Golda Meir
Sicher! Sehen Sie warum: man
kann Träume haben, wie man will, aber, wenn man träumt, ist man nicht wach. Und
wenn man wach ist, merkt man, dass der Traum wenig mit der Realität zu tun hat.
Frei sein, sagen zu dürfen, was man will, ist unabdingbar. …. Sowjetrussland
ist nicht arm, nicht unwissend, trotzdem getraut sich dort das Volk nicht, den
Mund aufzumachen. Und Privilegien gibt es immer noch… Bei den Vereinten
Nationen habe ich nie einen Unterschied feststellen können zwischen den
Aussenministern der sozialistischen Länder und den Aussenministern der reaktionären Länder. Vor einem Jahr, haben
sie sich der Stimme enthalten und liessen eine Resolution passieren, welcher
die Kriegsverbrechen definiert sind. Das habe ich dann meinen sozialistischen
Kollegen gesagt, als ich sie bei der Wiener Konferenz getroffen habe: „Dein
Land hat sich der Stimme enthalten. Damit bin ich nun ein Kriegsverbrecher,
oder was?“
Aber Sie sprachen von Pietro
Nenni ….. Nenni ist eine andere Sache. Nenni ist ein anderes Kapitel der
Geschichte des Sozialismus. Nenni ist einer der besten Personen, die es heute
auf der Welt gibt. Denn er ist so rechtschaffen: in ihm ist eine solche
Rechtschaffenheit, eine solche Menschlichkeit, ist ein solcher Mut in seinen
Ansichten! Ich bewundere ihn wie keinen anderen. Ich bin stolz darauf ihn einen
Freund nennen zu dürfen. Und … über den
Sozialismus denke ich wie er.
Oriana Fallaci
Frau Meir, wissen Sie was ich mich gefragt habe während ich Ihnen zuhörte?
Ich habe mich gefragt ob diese vielen Bitternisse Sie nicht zynisch gemacht
oder zumindest ernüchtert haben.
Golda Meir
Oh, das nicht. Ich bin auf
keinen Fall zynisch! Ich habe nur meine Illusionen verloren - alle. Zum
Beispiel, vor vierzig oder fünfzig Jahren glaubte ich, ein Sozialist sei immer
eine anständige Person, unfähig zu lügen. Heute hingegen weiss ich, dass ein
Sozialist ein Mensch wie jeder andere ist, der lügen kann wie jeder andere, der
sich gemein betragen kann wie jeder andere. Das ist traurig, sicher, aber es
reicht nicht, um das Vertrauen in die Menschen zu verlieren. Es reicht nicht um
daraus zu schliessen, dass der Mensch von Grund auf böse ist. Nein, nein! Sehen
Sie, wenn ich jemanden kennenlerne, gehe ich immer davon aus, dass es sich um
eine anständige Person handelt und fahre fort so zu denken bis ich nicht das
Gegenteil sehe. Auch wenn ich das Gegenteil sehe, dann sage ich nicht sofort, das
ist ein schlechter Mensch. Ich sage: mit mir ist er schlecht gewesen. Das
heisst, ich bin nicht misstrauisch. Von den Leuten erwarte ich mir nie das
Schlimmste. Aber ich weiss nicht, ob ich mich deshalb einen Optimist nennen
darf. In meinem Alter ist Optimismus ein übertriebener Luxus. In meinem langen
Leben habe ich viel Böses gesehen, das ist wahr. Zum Ausgleich habe ich aber auch, viel Gutes gesehen. Viel,
sehr viel……. Wenn ich mich an die vielen
Personen erinnere, die ich kennengelernt habe, so sind darunter - und das Sie können Sie mir glauben - sehr
wenige, die ich komplett negativ einschätze.
Oriana Fallaci
Sind Sie religiös, Frau Meir?
Gold Meir
Nein, Beileibe nicht! Das bin
ich nie gewesen. Nicht einmal als junges Mädchen. Nein, mein Verhalten hat
keinen religiösen Hintergrund. Es kommt von meinem instinktiven Vertrauen in
den Menschen, von meiner hartnäckigen Liebe zur Menschlichkeit. Die Religion
….. Wissen Sie, meine Familie war traditionalistisch aber nicht religiös. Nur
mein Grossvater war religiös, aber was den betrifft, so geht das sehr weit
zurück, auf Zeiten, in denen wir in Russland lebten. In Amerika, sehen Sie …. sprachen
wir unter uns hebräisch, wir feierten die Feste, aber in den Tempel (in die
Synagoge) gingen wir äusserst selten. Ich ging nur an Neujahr dorthin, um meine
Mutter zu begleiten und ihr zu helfen dort einen Sitzplatz zu finden. Das
einzige Mal, dass ich den Gebeten in einer Synagoge beigewohnt habe, war in
Moskau. Und wissen Sie, was ich denke? Wenn ich in Russland geblieben wäre,
wäre ich religiös geworden. Vielleicht.
Oriana Fallaci
Warum?
Golda Meir
Weil in Russland die Synagoge
der einzige Ort war, an dem Juden sich selbst sein konnten. Im Jahr 1948, als
ich von meiner Regierung als Missionschef nach Moskau geschickt wurde, hören
Sie was ich machte: Vor der Abreise, versammelte ich die Leute meiner
Delegation und sagte: „Nehmt alle Gebetsbücher mit, alle Gebetsmäntel, die
Kappen, alle Sachen. Ich bin sicher, dass wir Juden nur in der Synagoge begegnen werden“. Nun, es geschah genauso. Natürlich
am ersten Samstag wusste niemand ob er in die Synagoge ginge und ich traf dort
gerade einmal zweihundert Personen, oder ein paar mehr. Aber zu Rosh Hashana, das heisst an Neujahr
und an Jom Kippur, das heisst am Versöhnungstag, kamen Tausende. Ich blieb in der Synagoge vom Morgen bis zum
Abend, und im Moment an dem der Rabbiner den letzten Vers des Versöhnungsgebets
sprach, den, in dem es heisst „Leshana habaa b’Jerushalajim“, „das nächste Jahr
in Jerusalem“, schien die ganze Synagoge zu erzittern. Und ich, die ich eine
gefühlsbetonte Frau bin, betete wirklich. Wirklich. Verstehen Sie, es war nicht
wie wenn man bei einem Treffen in Buenos Aires oder New York sagt „Nächstes
Jahr in Jerusalem“. Von Buenos Aires und New York nimmt du das Flugzeug und fliegst
nach Israel. Aber in Moskau nahm dieser Ausruf einen besonderen Klang an. Und
beim Gebet sagte ich wirklich: „Gott mach es wahr! Wenn nicht nächstes Jahr so
doch in ein paar Jahren“. Ob es Gott gibt und er mich erhört hat? Es soll tatsächlich vorkommen.
Oriana
Fallaci
Frau Meir, haben Sie keinerlei gefühlsmässige Beziehung zu Russland?
Golda Meir
Nein, keinerlei. Wissen Sie,
viele meiner Freunde, die Russland als Erwachsene verlassen haben, sagen, sie
fühlten sich mit diesem Land verbunden, mit seiner Landschaft, mit seiner
Literatur, mit seiner Musik. Aber ich hatte keine Zeit um solche Sachen zu
schätzen. Ich viel zu klein, als ich Russland verliess war ich gerade acht
Jahre alt und an Russland habe ich nur schlechte Erinnerungen. Nein, Russland
habe ich nicht mit mir herumgetragen, nicht einmal in Augenblicken der Freude.
Alle meine Erinnerungen bis zum Alter von acht Jahren sind mehr oder weniger
tragisch. Der Albtraum der Pogrome, die Brutalität der Kosaken, die die jungen
Sozialisten niederritten, die Angst, die Schreie: das ist das Gepäck, dass ich aus
Russland in die Vereinigten Staaten mitgenommen habe. Wissen Sie, was die erste
Erinnerung meine Lebens ist? Die an meinen Vater, der die Fenster und Türen
zunagelt, um die Kosaken daran zu hindern in unser Haus einzudringen und uns zu
ermorden. Oh, die Hammerschläge auf die Holzbretter. Oh, der Lärm der
Pferdehufe als die Kosaken unsere Strasse heraufritten.
Oriana Fallaci
Wie alt waren sie damals?
Golda Meir
Fünf oder sechs Jahre. Aber ich
erinnere mi8ch an das alles auf sehr lebendige Weise. Wir wohnten in Kiew und
am Tag als mein Vater Kiew verliess um in die Vereinigten Staaten zu gehen …..
Wir waren sehr arm, wir hatten nicht einmal genug zu essen, und er dachte daran
nach Amerika zu gehen für ein oder zwei Jahre, etwas Geld zurückzulegen und
dann zurückzukehren. Am Anfang des 20. Jahrhunderts, war Amerika für die Juden
eine Art Bank, zu der man geht um die Dollars aufzusammeln, die dort auf dem
Trottoir herumliegen und von wo man mit vollen Taschen zurückkehrt. Also
verliess mein Vater Kiew, denn Kiew war keine Stadt für Juden, die keine Arbeit
hatten, zum Beispiel gab es keine Arbeit für meinen Vater, der ein Handwerker
war. Und als er gegangen war mussten
auch wir gehen. Und wir gingen nach Pinsk, ich, meine Mutter und meine beiden
Schwestern. Es war im Jahr 1903. In Pinsk blieben wir bis 1905, dem Jahr, in dem
die Brutalität des zaristischen Regimes ihren Höhepunkt erreichte. Die
Verfassung von 1905 war in Wahrheit eine schmutzige Lüge: ein Trick um die
Sozialisten besser konzentrieren und einsperren zu können. Und meine ältere
Schwester, die neun Jahre älter war als ich, gehörte der sozialistischen
Bewegung an. Wegen ihrer politischen Aktivitäten blieb sie oft bis spät in die
Nacht ausser Haus und meine Mutter drehte durch, denn unsere Wohnung war gleich
neben dem Polizeikommissariat, wohin sie die verhafteten Sozialisten brachten
und …. Sie prügelten sie zu Tode und man hörte ihre Schreie, jeden Abend! Meine
Mutter glaubte immer die Stimme meiner Schwester wiederzuerkennen: „Es ist sie!
Es ist sie!“. Oh, wie waren wir glücklich als mein Vater schrieb, wir sollten
zu ihm nach Amerika kommen, denn in Amerika lebte man gut.
Oriana Fallaci
Sie sind sehr mit Amerika verbunden, nicht wahr?
Golda Meir
Ja, und nicht nur weil ich
Amerika aufgewachsen bin, denn in Amerika habe ich studiert und gelebt bis ich
zwanzig war. Denn ….. also, in Amerika habe ich die Angst verloren, die ich in
Pinsk, in Kiew hatte. Wie soll ich den Unterschied erklären, der für mich
zwischen Amerika und Russland besteht. Sehen Sie, als wir ankamen war ich etwas
mehr als acht Jahre alt, meine ältere Schwester war siebzehn und meine kleinere
Schwester viereinhalb Jahre alt. Mein Vater hatte Arbeit und gehörte den
Gewerkschaften an. Er war sehr stolz auf seine Gewerkschaften und zwei Monate
später, am Labour Day, sagte er zu meiner Mutter: „Heute machen wir einen
Umzug. Wenn ihr an die und die Strassenecke kommt, seht ihr mich mit meinen
Gewerkschaften marschieren“. Meine Mutter brachte uns dorthin und während wir
dort an der Strassenecke standen und auf den Umzug warteten, kamen berittene
Polizisten, um die Strasse für den Umzug freizumachen. Haben Sie gehört? Aber
meine kleine, viereinhalb Jahre alte Schwester wusste das nicht und als sie die
Polizisten auf ihren Pferden sah, fing sie an zu zittern und schrie: „Die
Kosaken, die Kosaken!“ Wir mussten sie fortbringen ohne meinem Vater die
Genugtuung zu gegeben zu haben ihn mit seinen Gewerkschaften marschieren zu
sehen. Sie blieb tagelang mit hohem Fieber im Bett und wiederholte immer
wieder: „Die Kosaken, die Kosaken!“
„Kurz, das Amerika, das ich kennengelernt habe, ist ein Land, in dem Männer
auf Pferden den Umzug von Arbeitern schützen, und das Russland, das ich
kennengelernt habe, ist ein Land, in welchen die Männer auf Pferden junge
Sozialisten und Juden massakrieren.
Oriana Fallaci
Es ist zwar nicht ganz so, Frau Meir, aber immerhin ……
Golda Meir
Ach, hören Sie! Amerika ist ein
grosses Land. Es hat seine Schwächen, es gibt viele soziale Ungleichheiten, und
es ist eine Tragödie zu sehen, dass das Negerproblem seine Lösung nicht vor
fünfzig oder hundert Jahren gefunden hat. Aber trotzdem bleibt es grossartiges
Land, ein Land mit vielen Möglichkeiten, ein freies Land! Aber ist es etwa nichts,
dass man dort sagen darf, was man will, schreiben darf, was man will, auch
gegen die Regierung, auch gegen das Establishment? Vielleicht bin ich nicht
objektiv, aber gegenüber Amerika empfinde ich eine grosse Dankbarkeit! Mit
Amerika fühle ich mich eng verbunden: OK!
Oriana Fallaci
OK. Jetzt sind wir endlich bei der Person Golda Meirs angelangt. Wollen
wir nun über die Frau reden, die Ben Gurion einmal den fähigsten Mann meiner
Regierung genannt hat?
Golda Meir
Das ist einer der Legenden, die
um mich entstanden sind. Und es ist auch eine Legende, die ich immer als
irritierend angesehen habe, obwohl die Männer sie als ein grosses Kompliment
betrachten. Ist es eins? Ich würde das nicht sagen. Denn was bedeutet das im
Grunde schon? Dass ein Mann zu sein etwas Besseres ist als eine Frau zu sein:
mit diesem Prinzip bin keineswegs einverstanden. Und das will ich denjenigen
sagen, die mir ein solches Kompliment machen. Und wenn Ben Gurion gesagt hätte:
„Die Männer meiner Regierung sind so fähig wie eine Frau“? Die Männer fühlen
sich immer so überlegen. Ich werde niemals vergessen was beim Kongress meiner
Partei in den 30er Jahren in New York geschah. Ich hielt eine Rede und unter
den Leuten, die mir zuhörten, war einer meiner Freunde, ein Schriftsteller.
Eine anständige Person, ein Mann von grosser Feinheit und grosser Kultur. Als
ich geendet hatte kam er zu mir und sagte: „Bravo“! Du hast eine hervorragende
Rede gehalten! Besonders wenn man bedenkt, dass Du nur eine Frau bist!“ Genauso
sagte er es: auf eine völlig spontane und instinktive Art. nur gut, dass ich
auf solche Sachen mit Humor reagiere ….
Oriana Fallaci
Den Frauen von der feministischen Bewegung würde das gut gefallen, Frau
Meir.
Golda Meir
Sie meinen diese Verrückten,
die ihre Büstenhalter verbrennen und völlig aus den Angeln gehoben herumlaufen
und die Männer hassen? Verrückte sind das. Verrückte. Aber wie kann man nur
solche Verrückten ernst nehmen, denen schwanger zu werden ein Unglück bedeutet
und Kinder zu kriegen eine Katastrophe? Aber das ist doch das grösste Privileg,
das wir Frauen gegenüber den Männern haben! Der Feminismus …. Hören Sie: ich bin zur Politik gekommen
zur Zeit des Ersten Weltkriegs, als ich sechszehn oder siebzehn Jahre alt war,
und ich war nie Mitglied einer Frauenorganisation. Als ich mich bei der
zionistischen Arbeiterpartei eingeschrieben habe, habe ich dort nur zwei Frauen
getroffen: zu 90 Prozent waren meine Genossen Männer. Und mit Männern habe ich
mein ganzes Leben zusammengelebt und zusammengearbeitet. Und den Umstand Frau
zu sein habe ich nie, ich sage nie, als Hindernis empfunden. Er ist mir nie
unangenehm gewesen oder hat mir Minderwertigkeitskomplexe bereitet. Die Männer
haben mich immer mit Respekt behandelt.
Oriana Fallaci
Wollen Sie damit sagen, dass sie die Männer den Frauen vorziehen?
Golda Meir
Nein, ich sagte, dass ich nie
unter den Männern zu leiden hatte nur weil ich eine Frau bin. Ich sagte, dass
die Männer mich nie besonders zuvorkommend behandelt haben, aber sie haben mir
auch keine Hindernisse in den Weg gelegt. Gewiss habe ich Glück gehabt, sicher
haben nicht alle Frauen die gleiche Erfahrung wie ich gemacht: wie auch immer,
mein persönlicher Fall ist keine Bestätigung dafür, dass diese verrückten
Frauen Recht haben. Es gibt einen einzigen Punkt in dem ich mit ihnen
übereinstimme: um Erfolg zu haben muss eine Frau sehr viel besser sein als ein
Mann. Sei es in einem Beruf oder in der Politik. In unserem Parlament gibt es
wenig Frauen: etwas, das mich ziemlich stört. Und diese wenigen Frauen, das
garantiere ich Ihnen, sind keineswegs weniger fähig als die Männer. Oft sind
sie sogar viel tüchtiger als die Männer. Deswegen ist es lächerlich, wenn
gegenüber den Frauen immer noch viele Vorbehalte bestehen, viele
Ungerechtigkeiten. Wenn zum Beispiel eine Liste für die Wahlen aufgestellt
wird, sieht man Namen von Männern und Schluss. Aber ist das alles nur Schuld
der Männer? Wohl nicht, vielleicht zum Teil, auch die Frauen haben selbst
schuld.
Oriana Fallaci
Frau Meir, Sie haben eben gesagt, dass eine Frau um Erfolg zu haben sehr
viel tüchtiger sein muss als ein Mann. Heisst das vielleicht nicht, dass es
viel schwieriger ist eine Frau zu sein als ein Mann?
Golda Meir
Ja, gewiss. Schwieriger,
anstrengender, mühsamer. Aber nicht unbedingt wegen der Männer: aus biologischen
Gründen, würde ich sagen. Wer Kinder gebiert ist die Frau und wer die Kinder
aufzieht, ist ebenfalls die Frau. Und wenn eine Frau nicht nur Kinder gebären
und aufziehen will ….. wenn eine Frau auch arbeiten will, jemand sein will ….
Nun das ist hart. Sehr hart. Ich weiss das aus persönlicher Erfahrung. Du bist
bei der Arbeit und denkst an deine Kinder, die du zuhause gelassen hast. Du
bist zuhause und denkst an deine Arbeit, die im Augenblick keiner macht. Da
bricht in dir ein innerer Kampf aus: die Herz zerreisst. Es sei denn du lebst
in einem Kibbuz, wo das Leben so organisiert ist, dass du beides kannst,
arbeiten und Kinder haben. Ausserhalb des Kibbuz ist alles ein Rennen, ein
ständiges Sichzersplittern, ein Angstzustand und …. Es ist unvermeidlich, dass
das sich alles auf die Familie auswirkt . Vor allem wenn dein Mann kein
Gesellschaftstier ist wie du selbst und sich mit einer aktiven Frau unwohl
fühlt, mit einer Frau, der es nicht reicht nur Ehefrau zu sein. Das gibt es
einen Zusammenstoss. Und der Zusammenstoss zerstört die Gemeinschaft. So wie es
mir passiert ist. Ja ich habe dafür bezahlt, um zu sein wie ich bin. Ich habe
viel dafür bezahlt.
Oriana Fallaci
In welcher Form, Frau Meir?
Golda Meir
In Form des Schmerzes. Denn,
sehen Sie, ich weiss, dass meine Kinder, als sie noch klein waren viel wegen
mir gelitten haben. Ich habe sie oft allein gelassen. Ich bin nie mit ihnen
zusammen gewesen, wie ich es gesollt hätte und gewollt habe. Oh, ich erinnere
mich wie sie glücklich waren, meine Kinder, jedes Mal wenn ich nicht arbeiten
ging weil ich Kopfschmerzen hatte. Sie tanzten, lachten und sangen: „Mamma
bleibt zuhause! Mamma hat Kopfschmerzen!“ Ich sehe mich in grosser Schuld
gegenüber Sarah und Menachem, selbst heute noch, wo sie erwachsen sind und
ihrerseits Kinder haben. Und trotzdem, trotzdem muss ich ehrlich sein und mir
sagen: „Golda, du musst dir bis auf den Grund Vorwürfe machen wie du dich
verhalten hast, wie du dich ihnen gegenüber verhalten hast. Nein, nicht bis auf
den Grund. Denn durch mein Leiden habe ich ihnen auch ein interessantes Leben
gegeben, ein weniger banales als das normale. Ich will sagen, sie sind nicht in
einer beengenden Familienatmosphäre aufgewachsen. Sie haben viele wichtige
Persönlichkeiten kennengelernt, haben tiefschürfenden Diskussionen beigewohnt,
waren bei wichtigen Dingen zugegen. Und wenn Sie sie darauf ansprechen, werden
sie es Ihnen bestätigen. Sie werden sagen: „Ja, die Mamma hat uns zu viel
vernachlässigt, wir haben oft unter ihrer Abwesenheiten, wegen ihrer Politik, ihrer
Zerstreutheit gelitten, aber wir können ihr keinen Vorwurf daraus machen, denn
so wie sie war, hat sie uns viel mehr gegeben als eine andere Mutter uns hätte je
geben können!“ Sie glauben nicht, wie stolz ich war, an jenem Tag als …. 1948,
in der Zeit, in der wir mit den Engländern gekämpft haben, schrieb ich Aufrufe,
die die jungen Leute von unserer Bewegung nachts an die Mauern klebten. Meine
Tochter wusste nicht, dass ich es war, die diese Aufrufe verfasste, und eines
Tages sagte sie zu mir: „Mamma, heute Abend komme ich spät nachhause. Und
vielleicht komme ich überhaupt nicht mehr“. „Warum?“, fragte ich sie
allarmiert. „Ich kann es dir nicht erklären, Mamma“. Dann ging sie, mit einem
Paket unter dem Arm. Niemand konnte besser wissen als ich was in dem Paket war,
und die Aufrufe nachts anzukleben war sehr gefährlich. Bis zum Morgengrauen
blieb ich wach und wartete auf Sarah, und machte mir Vorwürfe, dass ich sie
hatte gehen lassen. Gleichzeitig war ich aber sehr stolz auf sie!
Oriana Fallaci
Frau Meir, die Schuldgefühle, die Sie gegenüber ihren Kindern haben,
haben Sie die auch gegenüber ihren Mann?
Golda Meir
Sprechen wir nicht über das …..
Ich will dazu nichts sagen. Darüber werde ich nie sprechen. Na, gut. Versuchen
wir es. Sehen Sie, mein Mann war ein ausserordentlich aufrichtiger Mensch: gebildet,
höflich, gut. Alles in ihm war gut. Aber er war auch ein Mensch, den nur die
Familie interessierte, das Haus, die Musik, die Bücher. Er kannte die sozialen
Probleme, das ist wahr, aber angesichts der Wohnung und der Familieneinheit
verlor er alles Interesse an ihnen. Ich war zu verschieden von ihm und bin das
immer gewesen. Mir reichte das häusliche Glück nicht, ich brauchte immer das,
was ich gemacht habe. Darauf zu verzichten wäre für mich ein Akt der Feigheit
gewesen, eine Unaufrichtigkeit mir selbst gegenüber. Mich hätte das unbefriedigt
gelassen, ich wäre traurig gewesen …. Ich habe meinen Mann kennengelernt als
ich gerade einmal fünfzehn Jahre alt war. Ich habe ihn bald darauf geheiratet
und er hat mir viele schöne Dinge nahegebracht: Musik, Dichtung….. Aber ich bin
nicht dazu geboren, mich mit Musik, Dichtung und so weiter zufriedenzugeben ….
Er wollte, dass ich zuhause bleibe und die Politik aufgäbe. Ich war hingegen
immer ausser Haus, immer inmitten der Politik. Gewiss habe ich Schuldgefühle ihm
gegenüber…. Ich habe auch ihn viel leiden lassen…. Wir gingen nach Israel, weil ich nach Israel
wollte. Wir gingen in einen Kibbuz weil ich in einem Kibbuz leben wollte. Wir
führten ein Leben, für das er nicht gemacht war, ein Leben , von dem ich aber nicht
lassen konnte. Es war eine Tragödie, eine immense Tragödie. Denn, ich
wiederhole es, er war ein wunderbarer Mensch und mit einer anderen Frau hätte
er vielleicht sehr glücklich sein können.
Oriana Fallaci
Machten Sie niemals eine Anstrengung sich ihm anzupassen, ihm zu Liebe?
Golda Meir
Für ihn habe ich das grösste
Opfer meines Lebens gebracht: ich verliess den Kibbuz. Sehen Sie, es gibt
nichts, was ich so sehr geliebt habe als den Kibbuz. Im Kibbuz gefiel mir
alles: die körperliche Arbeit, die Kameradschaft, die Unbequemlichkeiten. Unser
Kibbuz war in der Jesreelebene und am Anfang gab es dort nichts als Sümpfe und
Sand. Aber bald wurde daraus ein Garten voller Orangen- und Obstbäume, und nur
ihn anzuschauen war für mich eine solche Freude, dass ich dort mein ganzes
Leben hätte verbringen können. Er hingegen konnte das nicht ertragen, weder
seelisch, noch körperlich. Er liebste es nicht am Gemeinschaftstisch mit den
anderen zu essen, und er hielt auch die schwere körperliche Arbeit nicht durch.
Er hielt das Klima nicht aus und auch nicht das Gemeinschaftsleben. Er war ein
zu grosser Individualist, zu sehr introvertiert, zu empfindlich. Er erkrankte …
und wir mussten gehen, zurück in die Stadt, nach Tel Aviv. Es schmerzt mich noch
heute wie ein Nadelstich. Für mich war es ein wirkliches Drama, aber ich hielt
durch, indem ich dachte, dass in der Stadt das Familienleben ruhiger sein würde
und wir mehr zusammenhalten würden. Dann im Jahr 1938 trennten wir uns. Er
starb 1951.
Oriana Fallaci
War er nicht stolz auf Sie, zumindest in den letzten Jahren?
Golda Meir
Ich weiss nicht, Ich glaube
nicht. Ich weiss nicht was er in den letzten Jahren dachte und im Übrigen lebte
er so zurückgezogen, dass es wahrscheinlich niemand erraten hätte. Seine
Tragödie kam nicht davon, der er mich nicht verstand: er verstand mich sehr
gut. Sie kam davon, dass er mich verstand, zugleich aber merkte, dass er mich
nicht ändern konnte. Er sah, dass es für mich keine andere Wahl gab und dass
ich so war, wie ich bin. Aber er wollte das nicht zugeben. Und wer weiss, ob er
nicht Recht hatte.
Oriana Fallaci
Haben Sie niemals daran gedacht sich scheiden zu lassen, Frau Meir, und
haben Sie nie dran gedacht sich wieder zu verheiraten als er gestorben war?
Golda Meir
Oh, nein, Niemals. Diese Idee
ist mir nie gekommen, nie! Ich bin fortgefahren mich als mit ihm verheiratet zu
sehen. Nach unserer Trennung haben wir fortgefahren uns zu sehen. Manchmal kam
er zu mir ins Büro ….. Vielleicht haben Sie eine wichtige Sache nicht
verstanden: ungeachtet der Tatsache, dass wir so verschieden waren und unfähig
zusammenzuleben, bestand zwischen uns immer Liebe. Die unsere war eine grosse
Liebe: und sie dauerte vom Tage, an dem wir uns kennengelernt haben, bis zum
Tag an dem er starb. Eine solche Liebe kann man nicht ersetzen.
Oriana Fallaci
Frau Meir, ist es war, dass Sie sehr schamhaft sind? Sagen wir – sehr
puritanisch, moralbesessen?
Golda Meir
Sehen Sie, wie ich vorher
sagte, habe ich immer inmitten von Männern gelebt. Und niemals hat ein Mann
sich erlaubt in meiner Anwesenheit schmutzige Geschichten zu erzählen, sich an
mich mit ungebührlichen Reden oder Einladungen zu wenden. Wissen Sie weshalb?
Weil ich immer gesagt habe, dass, wenn mir jemand ein Glas Wasser anbietet, das
Wasser sauber sein muss. Wenn nicht, dann trinke ich es nicht. So bin ich: mir
gefallen nur saubere Sachen. Ein guter Freund hat sich einmal an mich gewandt
und sagte: „Golda, Du musst nicht so steif sein. Es gibt keine moralischen und
unmoralischen Dinge. Es gibt nur schöne Dinge und hässliche“. Ich nehme an,
dass er Recht hat. Ich nehme sogar an, dass eine Sache schön und hässlich zugleich
sein kann. Für die einen ist sie schön, für andere hingegen hässlich. Ich weiss
nicht wie ich es ausdrucken soll….. Vielleicht so: Liebe ist immer schön, aber
der Liebesakt mit einer Prostituierten ist hässlich.
Oriana Fallaci
Man sagt, Sie sind immer sehr hart, wenig flexibel.
Golda Meir
Ich, hart?! Nein, es gibt in
der Politik einige Punkte, in denen man mich hart nennen kann. Ich bin in der
Tat nicht bereit Vergleiche einzugehen und ich bestätige das ganz fest. Ich
glaube an Israel, ich diskutiere nicht über Israel, Punkt. Schluss. Ja, in
diesem Sinne trifft das Wort inflexibel auf mich zu. Aber im Übrigen, was mein Privatleben,
was die Leute, die menschlichen Probleme betrifft … mich inflexibel zu nennen,
finde ich dümmlich. Ich bin das sensibelste Wesen, das Sie sich vorstellen
können. Nicht von ungefähr beschuldigen mich viele Politik nach Gefühl zu
machen anstatt mit Überlegung. Na, und wenn es so wäre? Ich sehe darin nichts
Schlechtes, im Gegenteil. Ich habe immer die Leute bedauert, die vor Gefühlen,
vor Emotionen Angst haben, und alles verstecken was sie empfinden und die nicht
aus ganzem Herzen weinen können. Denn wer nicht in der Lage ist zu weinen, ist
auch nicht in der Lage aus vollem Halse zu lachen.
Oriana Fallaci
Geschieht es wirklich, dass Sie weinen müssen?
Golda Meir
Und ob es geschieht! Und wie!
Und dennoch, wenn man mich fragt: „Golda, sag mir, hast Du in Deinem Leben mehr
lachen oder weinen müssen?“ antworte ich: „Ich denke, dass ich mehr gelacht als
geweint habe“. Abgesehen von meinem Familiendrama habe ich ein so glückliches
Leben gehabt. Ich habe so viele erfreuliche Menschen kennengelernt, ich habe
die Freundschaft von so vielen interessanten Menschen genossen: vor allem in
den fünfzig Jahren, die ich in Israel zugebracht habe. Ich habe mich immer in einem Kreis von grossen
Geistern befunden, ich bin immer anerkannt und geliebt worden. Und was anderes
kann vom Schicksal erwarten? Es wäre wirklich undankbar von mir wenn ich nicht
lachen könnte.
Oriana Fallaci
Nicht schlecht für eine Frau, die als das Symbol von Israel gilt.
Golda Meir
Ich ein Symbol!?! Was denn für
ein Symbol. Wollen Sie sich vielleicht über mich lustig machen? Sie haben die
grossen Männer nicht kennengelernt , die tatsächlich Symbole Israels gewesen
sind: die Männer, die Israel gegründet haben und die mich beeinflusst haben.
Von denen ist ausser Ben Gurion keiner mehr übrig. Ich schwöre Ihnen bei meinen
Kindern und Enkeln, ich habe mich nie in der Kategorie der Ben Gurion gesehen.
Ich bin doch nicht verrückt! Ich habe nur das getan, was ich tun musste, und
das ist alles. Unser Land wäre ohne mich nicht anders.
Oriana Fallaci
Also warum sagt man, dass nur Sie in der Lage sind, es zusammenzuhalten?
Golda Meir
Das sind Geschichten! Jetzt
erzähle ich Ihnen etwas, das Sie überzeugen wird. Als Eshkol 1969 starb, machte
man eine Umfrage um die Popularität seiner möglichen Nachfolger festzustellen.
Und wissen Sie, wie viele sich für mich ausgesprochen haben? Ein Prozent.
Vielleicht, eineinhalb Prozent. Also gut, es gab da eine Krise in meiner Partei
und auch als Aussenministerin hatte ich das zu spüren bekommen: aber ein oder
eineinhalb Prozent! Und eine Frau, die bis vor drei Jahren so unpopulär war,
sei heute diejenige, die das Land zusammenhält? Glauben Sie mir, das Land hält
sich selbst zusammen: es braucht keinen Premierminister, der Golda Meir heisst.
Wenn die Jungen sagen würden: „uns reicht es zu kämpfen“ – es reicht mit dem
Krieg – ergeben wir uns, könnte keine Golda Meir etwas dagegen machen. Wenn man im Kibbuz von Beth Shean gesagt hätte
„es reicht uns unter dem Raketenhagel der Fedajin zu leben, es reicht uns in
Unterständen zu schlafen, gehen wir fort“ , keine Golda Meir hatte etwas
dagegen tun können. Im Übrigen, an die Regierung ist Golda Meir per Zufall
gelangt. Eshkol war schon tot, man musste ihn ersetzen, die Partei dachte, dass
ich ihn ersetzen könnte, denn ich war von allen Konkurrenten akzeptiert ….. so und
nicht anders war es. Ich damals war schon nicht mehr an der Regierungspolitik
beteiligt, ich war müde. Fragen Sie meine Enkel, meine Kinder.
Oriana Fallaci
Frau Meir, sagen Sie mir nicht, dass Sie Ihren Erfolg nicht kennen.
Golda Meir
Ja, den kenne ich! Ich habe
keine Anwandlungen von Grössenwahn, aber ich habe auch keine
Minderwertigkeitskomplexe. Wenn ich es ablehne als Symbol bezeichnet zu werden
und diejenige zu sein, die das Land zusammenhält, sage ich damit nicht, dass
ich mich als ein Versager betrachte. Ich war sicher nicht immer perfekt, aber
ich meine auch nicht in meiner Karriere versagt zu haben: weder als
Arbeitsministerin, noch als Aussenministerin, noch als Parteisekretärin, noch
als Staatsoberhaupt. Ich muss zugeben, dass meiner Meinung nach Frauen sehr gut
regieren können, sehr gute Staatschefs sein können. Oh Gott, vielleicht hätte
ich genauso gut meinen Posten ausgefüllt wenn ich ein Mann wäre….. Ich weiss es
nicht, ich kann es nicht beweisen, ich bin nie ein Mann gewesen … Ich denke
jedoch, dass die Frauen, mehr noch als die Männer, eine Fähigkeit besitzen, die
ihnen hilft, diesen Beruf auszuüben, nämlich diejenige, geradlinig auf den Kern
der Dinge loszugehen, den Stier bei den Hörnern zu packen. Frauen sind
praktischer als Männer, realistischer. Sie verlieren sich nicht in nebulösen
Dingen wie die Männer, die immer um die Sache herum kreisen wie die Katze um
den heissen Brei.
Oriana Fallaci
Und trotzdem reden Sie manchmal so als ob Sie sich selbst nicht
gefielen. Gefallen Sie sich, Frau Meir?
Golda Meir
Welche Person guten Willens
gefällt sich selbst? Ich kenne mich zu gut, um mir selbst zu gefallen. Ich
weiss zu gut, dass ich nicht so bin, wie ich sein möchte. Ich sage Ihnen wer
mir gefällt: meine Tochter, Sarah ist so gut, so intelligent, so intellektuell,
so integer! Wenn sie in etwas glaubt, glaubt sie es ganz fest. Was sie denkt,
sagt sie das ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Und sie unterwirft sich nie
den anderen, der Mehrheit. Das kann ich von mir wirklich nicht sagen. Wenn
jemand die Arbeit macht, die ich mache, muss er immer Kompromisse eingehen; er
kann sich nie erlauben, auf seinen Ideen hundertprozentig zu bestehen.
Natürlich gibt es für Kompromisse eine Grenze und man kann nicht endlos weiter
Kompromisse eingehen. Trotzdem mache ich sie zur Genüge. Und dass ist schlimm.
Und ich kann es kaum abwarten, mich von der Politik zurückzuziehen, auch
deswegen.
Oriana Fallaci
Sie wollen sich tatsächlich zurückziehen?
Golda Meir
Ich gebe Ihnen mein Wort. Hören
Sie, im Mai des nächsten Jahres werde ich fünfundsiebzig. Ich bin alt. Ich bin
verbraucht. Meine Gesundheit ist im Grunde gut, mein Herz funktioniert, aber
ich kann nicht ewig fortfahren mir diesem Wahnsinn. Wenn Sie wüssten, wie oft
ich mir sage: zum Teufel mit alledem, zum Teufel mit allen, meinen Teil habe
ich geleistet, nun sollen es die anderen machen. Schluss, Schluss, Schluss! Es
gibt Tage, an denen ich gern alles hinwerfen und gehen würde ohne vorher jemanden
etwas davon zu sagen. Wenn ich bis heute geblieben bin, wenn ich für den Moment
noch bleibe, dann ist es aus reinem Pflichtgefühl und nichts anderes. Ich kann
ja schliesslich nicht alles einfach aus dem Fenster werfen! Ja, viele glauben
nicht, dass ich gehen werde. Sie sollten es jedoch glauben. Ich sage ihnen auch
das Datum: Oktober 1973. Im Oktober 1973 sind Wahlen. Wenn diese vorbei sind,
dann good-bye.
Oriana Fallaci
Ich glaube Ihnen das nicht. Alle sagen, Sie werden ihre Meinung schon
noch ändern, weil Sie es nicht aushalten ohne etwas zu tun.
Golda Meir
Sehen Sie, da gibt es noch eine
andere Sache, die die Leute nicht kennen. Ich bin von Natur aus faul. Ich
gehöre nicht zu den Personen, die jede Minute ausfüllen müssen, um nicht krank
zu werden. Mir gefällt auch das Nichtstun, in einem Sessel zu sitzen, oder mich
mit kleinen Dingen zu beschäftigen, die mir Spass machen. Das Haus Putzen,
Glätten, Kochen. Ich bin eine ausgezeichnete Köchin, eine ausgezeichnete
Hausfrau. Meine Mutter sagte: „Warum willst Du studieren? Du machst alle Sachen
so gut wie eine richtige Hausfrau. Und dann
schlafe ich gern. Oh wie mir das gefällt! Und es macht mir Spass unter
Menschen zu sein, mich mit ihnen über dies und das zu unterhalten: zum Teufel
mit den ernsten Gesprächen, mit den politischen Reden! Mir macht es Spass ins
Theater zu gehen. Ich würde auch gern ins Kino gehen, ohne von der Leibwache
begleitet zu werden. Aber das ist unmöglich, denn wenn ich mir einen Film sehen
will, dann schicken sie mir selbst noch die Reserve der israelischen Armee
hinterher. Was für ein Leben ist das? Seit Jahren kann ich nicht mehr machen
was ich will: weder schlafen, noch ein Schwätzchen halten, noch überhaupt etwas
machen! Immer bin ich an dieses Blatt gebunden, auf dem steht, was ich machen
muss, was ich sagen muss, und das für jede halbe Stunde. Dann ist da meine
Familie. Ich will nicht, dass meine Enkelkinder sagen: „Die Grossmutter benimmt
sich schlecht gegenüber ihren Kindern und vernachlässigt sie“. Ich bin
schliesslich Grossmutter. Ich habe nicht mehr viele Jahre zu leben und die, die
ich noch leben will, will ich mit meinen Enkeln verbringen. Ich habe Regale
voll von Büchern, die ich noch nie gelesen habe. Nachts um zwei Uhr, wenn ich mich hinlege und versuche zu lesen, nehme
ich eins in die Hand aber nach zwei Minuten schlafe ich ein und das Buch
rutscht auf den Boden. Dann möchte ich auch in den Kibbuz von Sarah gehen, wenn
ich will: für eine Woche, einen Monat, nicht nur freitagabends, huschhusch, um
Samstagabend huschhusch wieder abzureisen.
Ich möchte Herr meiner Zeit sein und nicht dass die Uhr mein Herr ist.
Oriana Fallaci
Das Alter flösst Ihnen also keine Angst ein.
Golda Meir
Nein, das hat mich nie
erschreckt. Ich, wenn ich weiss, dass ich die Dinge ändern kann, werde ich
aktiv wie ein Wirbelwind. Und fast immer gelingt es mir sie zu ändern. Aber wenn ich weiss, dass ich nichts machen
kann, füge ich mich darein. Ich werde nie vergessen als ich das erste Mal ein
Flugzeug benutzt habe. Es war 1929 von Los Angeles nach Seattle. Aus
Arbeitsgründen, nicht etwa zum Spass. Es war ein kleines Flugzeug, im
Augenblick des Starts dachte ich: „Was für ein Wahnsinn! Warum mache ich das?“
Aber sofort danach habe ich mich beruhigt: was hätte es genutzt, wenn ich mich geängstigt
hätte? Ein anderes Mal flog ich von New York nach Chicago, zusammen mit einem
Freund, und es kam ein furchtbares Gewitter auf. Das Flugzeug wirbelte und
tanzte und mein Freund fing an zu heulen wie ein Kind. Ich sagte zu ihm: „Hör
auf, was heulst Du, zu was nützt es?“ Meine Liebe, das Alter ist wie ein
Flugzeug in einem Gewitter. Wenn du einmal drin bist, kannst du nichts mehr
machen. Ein Flugzeug kann man nicht anhalten und auch ein Gewitter nicht, und
auch die Zeit kann man nicht anhalten. Folglich muss man alles mit Ruhe nehmen
und mit Weisheit.
Oriana Fallaci
Und diese Weisheit bringt Sie dazu manchmal streng mit der Jugend
umzugehen?
Golda Meir
Hören Sie: man muss schon verrückt
sein um nicht zu merken, dass die jüngeren Generationen anders denken als man selbst
und das ist auch richtig so. Es wäre scheusslich wenn jede Generation eine
Kopie der vorangegangenen wäre: die Welt würde sich nicht weiterentwickeln. Ich
bin mit Freunde mit der Tatsache einverstanden, dass die Jungen anders sind als
ich. Das, was ich verurteile bei den Jungen, ist ihre Anmassung wenn sie sagen:
„alles was ihr gemacht habt war falsch und folglich machen wir alles neu“. Eh, wenn sie alles besser machen, wäre es mir
recht, aber oft sieht man, dass es nicht besser ist, als was wir gemacht haben
und manchmal ist es sogar schlechter. Der Kalender ist nun schliesslich nicht
das Mass von Gut und Böse. Ich kenne reaktionäre und egoistische Junge und altruistische
und progressiv denkende Alte. Und dann gibt es noch eine andere Sache, die ich
an den Jungen kritisiere: die Manie alles zu nachzumachen, das von draussen
kommt. Ihre Moden machen mich nervös. Denn diese Musik ist keine Musik und
dient nur dazu Kopfschmerzen zu bereiten. Warum diese langen Haare und diese
kurzen Kleider? Ich bin gegen die Mode und bin immer dagegen gewesen. Die Mode
ist ein Zwang, ein Verlust an Freiheit. Jemand in Paris entscheidet, wer weiss
warum, dass die Frauen Miniröcke tragen müssen und schon tragen alle Miniröcke, gleich ob: lange Beine, kurze
Beine, magere Beine, dicke Beine, hässliche Beine…. Geduld, solange sie jung
sind, mag das gehen, aber wenn sie fünfzig sind, dann werde ich wirklich
ärgerlich. Aber haben Sie schon alte Männer gesehen, die sich schulterlange,
lockige Haare wachsen lassen?!“
Oriana Fallaci
Die Tatsache, Frau Meir, ist, dass ihre Generation eine heldenhafte war
und die von heute ….
Golda Meir
Auch die heutige ist
heldenhaft. Die Generation meiner Kinder. Wenn ich Männer von fünfundvierzig
oder fünfzig Jahren sehe, die seit zwanzig, dreissig Jahren im Krieg sind ……
Jedoch, wissen was ich sage? Auch die der jungen von heute ist eine heldenhafte
Generation. Auf jeden Fall die hier in Israel. Wenn ich daran denke, dass sie
schon mit achtzehn Jahren Soldaten werden und hier heute Soldat zu sein, heisst
nicht nur üben und Schluss, dann bricht mir das Herz. Wenn ich die Schüler der
Mittelschulen sehe, denke ich, dass eine Verrücktheit Sadats sie jederzeit von
der Schulbank fortreissen kann, dann schnürt sich mir die Kehle zu. Manchmal
bin ich ungeduldig mit ihnen und streite mit ihnen. Aber nach fünf Minuten sage
ich mir: „Golda, in einem Monat könnten sie an der Front sein. Sei nicht
ungeduldig mit ihnen. Lass sie anspruchsvoll und arrogant sein. Lass sie Miniröcke
und lange Haare tragen“. Letzte Woche war in einem Kibbuz im Norden. Im Büro sagten
sie ganz entsetzt: „Einen solche Reise machen Sie! Einer solche Anstrengung unterwerfen
Sie sich! Sind Sie verrückt?“. Aber wissen Sie, warum ich dort hingegangen bin?
Weil die Enkelin einer meiner alten Genossen geheiratet hat, denn im
Sechstagekrieg sind ihnen zwei weitere Enkel gestorben.
Oriana Fallaci
Frau Meir, haben Sie niemals jemanden getötet?
Golda Meir
Nein … Ich habe natürlich Schiessen
gelernt, aber ich war nie in einer Situation, in der ich jemanden töten musste.
Ich sage das ohne Erleichterung. Es ist kein Unterschied zwischen jemanden zu
töten und Entscheidungen zu treffen die andere zum Töten zwingen. Es ist genau
die gleiche Sache. Vielleicht sogar eine schlimmere.
Oriana Fallaci
Frau Meir, wie sehen Sie den Tod?
Golda Meir
Ich sage es ihnen gleich: meine
einzige Angst ist es, zu lange leben zu müssen. Wissen Sie, das Alter ist keine
Sünde und ist auch kein Spass: es gibt im Alter einen Haufen unerfreuliche
Dinge: man kann nicht mehr rasch die Treppen herauf-und heruntergehen, man kann
keine Sprünge mehr machen. Aber trotzdem gewöhnt man sich leicht an gewisse
Dinge, denn es handelt sich nur um körperliche Dinge und körperliche Gebrechen
sind keine wirklichen Einbussen. Das was entwürdigend ist, sind geistige
Einbussen, das Senilwerden. Die Senilität …. Ich habe Leute gekannt, die zu früh
gestorben sind und das hat mir weh getan. Und ich habe auch Menschen gekannt,
die zu spät gestorben sind, und die haben mir ebenso leid getan. Hören Sie, dem
Verfall einer intelligenten Person zuzusehen, ist eine Schmach. Ich will nicht,
dass mir das passiert. Ich will bei klarem Bewusstsein sterben. Ja, meine
Besorgnis ist die, zu lange leben zu müssen.
Jerusalem, November 1972